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Die narzisstische Gesellschaft

Die narzisstische Gesellschaft

Titel: Die narzisstische Gesellschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Maaz
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    1 Narziss – der Mythos
    In der griechischen Mythologie ist Narziss der Sohn des Flussgottes Kephisos und der Nymphe Leiriope. Ovids
Metamorphosen
erzählen, dass Leiriope in den Sog des Flusses gerät und der Flussgott ihr Gewalt antut, als seine Wellen sie umschließen. So müssen wir die Zeugung des Narziss wohl als Vergewaltigung verstehen. Der Vater floss danach einfach weiter, so dass Narziss bei einer alleinerziehenden Mutter aufwuchs. Leiriope war sich offensichtlich ihrer mütterlichen Aufgaben sehr unsicher. Sie hatte Angst, dass ihr Kind vorzeitig sterben könnte, und befragte den Seher Tiresias, ob es ihrem Sohn vergönnt sei, die Reife des Alters zu erleben. Tiresias antwortete auf ihre Frage: «Ja, wenn er sich fremd bleibt!» Anders übersetzt: «Wenn er sich selbst nicht erkennt.» Hier diagnostiziert der Seher bereits eine schwere Beziehungsstörung zwischen Mutter und Kind. Narziss ist seiner Mutter fremd (Vergewaltigung!) und muss, um zu leben, sich selbst fremd bleiben. Leiriope gab ihrem Sohn den Namen Narziss; das ist wortverwandt mit «Narkose». Aus der Wahl des Namens lassen sich die von Leiriope für ihren Sohn gewünschten Eigenschaften entnehmen: narkotisiert, unbeweglich, gelähmt, gefühllos. Die Unterdrückung des Fühlens, des Schmerzes wird damit Programm. Wer keinen Schmerz mehr empfindet, braucht auch keinen Trost, wirkt damit unabhängig und stolz, was die «Grandiosität» des Narzissmus erklärt (siehe Kapitel 2 ).
    Als Narziss zu einem schönen Jüngling herangewachsen war, warfen viele Mädchen ein Auge auf ihn, aber er wies alle Liebe hartherzig und hochmütig zurück. Ganz besonders heftig in Narziss verliebt war die Nymphe Echo; doch war sie nicht imstande, ihn mit eigenen Worten anzusprechen. Echo war von der Göttin Hera verflucht worden, so dass die Nymphe ihre Zunge nicht mehr uneingeschränkt benutzen konnte. Hera hatte sich von Echo betrogen gefühlt; denn die Geschwätzigkeit der Nymphe hatte dafür gesorgt, dass die eifersüchtige Göttin ihren Gemahl Zeus nicht in flagranti ertappte, als er sich zu Liebesspielen mit anderen Nymphen traf. So war Echo schließlich verdammt, nur zu wiederholen, was andere zuvor gesprochen haben. Als Narziss sich einmal auf der Jagd im Wald verirrt hatte und rief: «Ist hier jemand?», antwortete Echo: «Jemand.» «Komm her!», rief Narziss, und Echo: «Komm her!» Narziss: «Treffen wir uns.» Und Echo wiederholte nur allzu gern: «Treffen wir uns.» Als sie sich aber zeigte und Narziss umarmen wollte, flüchtete er mit dem Ausruf: «Ich sterbe lieber, als der Deine zu sein!» Auf diese Weise entzog sich Narziss auch anderen Nymphen, bis eine verschmähte Verliebte schließlich ihre Hände gen Himmel erhob und flehte: «So soll er denn sich selbst lieben, auf dass er niemals in der Liebe glücklich sei!» Dieser Fluch wurde von Nemesis, der Göttin der Rache, erhört. Als Narziss an ein Wasser kam, das so klar und still war, dass er sich darin spiegeln konnte, hielt er sein Spiegelbild für einen anderen Menschen und verliebte sich in dessen Schönheit. Er versuchte das Spiegelbild zu fassen, zu küssen, zu umarmen – doch er konnte es nicht wirklich erreichen: Es blieb ein Spiegelbild, ein flüchtiger Schatten, ohne eigene Bewegungen, eine trügerische Gestalt.
    Wie der Seher vorausgesagt hat, kommt Narziss im Prozess der Selbsterkenntnis zu Tode. Bei Ovid erkennt Narziss, dass es sein eigenes Bild ist, zu dem er in Liebe entbrannt ist, ohne es je berühren, geschweige denn sich mit ihm vereinen zu können. Angesichts dieser Unmöglichkeit wird er krank und vergießt bittere Tränen, die, als sie ins Wasser fallen, das Spiegelbild zerstören. Nun ist ihm auch der Anblick genommen. Er reißt sich die Kleider vom Leib und schlägt sich lange gegen die Brust, bis sie rot anläuft. Als er aber im wieder beruhigten Wasser schaut, was er sich zugefügt hat, erträgt er den Anblick nicht und schwindet langsam dahin, von der Liebe zu sich selbst entkräftet. Bei Pausanias fällt durch göttliche Fügung ein Blatt ins Wasser und verzerrt das eigene Spiegelbild. In einer dritten Version will Narziss sich mit seinem Spiegelbild vereinen, stürzt dabei ins Wasser und ertrinkt. [1]
    Zu Recht erschrecken wir über diesen Mythos bis heute: Das narzisstische Defizit, entstanden aus mangelnder Liebe, nimmt angesichts der Erkenntnis der Unerreichbarkeit der Liebe lebensbedrohliche, gar tödliche Züge an.
    Ich entnehme dem Mythos

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