Die narzisstische Gesellschaft
wahrzunehmen und zu verstehen. Bei einer Differenz zwischen der elterlichen Aussage und der unausgesprochenen Haltung der Eltern wird beim Kind immer die stillschweigend übermittelte Einstellung der Eltern in der seelischen Tiefe wirken. Das Kind empfindet mehr, als es versteht. Gefühle und Wahrnehmungen sind unabhängig von jedem erklärten pädagogischen Einfluss die wesentlichen Wirkfaktoren der kindlichen Entwicklung. Deshalb können in scheinbar besten Verhältnissen aufgewachsene Kinder unerwartet kriminell oder gar zu Amokläufern werden, weil die elterliche Zuwendung nicht echt war; Kinder aus ärmlichen Verhältnissen hingegen oder solche, die in einer Umwelt mit erheblichen sozialen Problemen aufgewachsen sind, können durchaus hochanständige Menschen werden, wenn die elterliche emotionale Versorgung ausreichend gut war.
Über Wohl oder Wehe des Kindes entscheidet nicht die Erziehungsform, sondern die Beziehungsqualität, das heißt die zumeist unbewussten Überzeugungen, Einstellungen und Motive des elterlichen Handelns. Diese lassen sich nicht durch Ratgeber oder Kurse erfassen und optimieren, sondern nur durch Selbsterfahrung. Die Selbstliebe, Zufriedenheit, Ehrlichkeit und Authentizität der elterlichen Psyche ist die Basis für einen gesunden Narzissmus der Kinder. Ist sie vorhanden, wird das Kind unverzerrt gespiegelt; es erfährt nicht nur echohafte Zuwendung, vielmehr werden durch eine originäre und unverfälschte Kommunikation Bestätigung, Anregung, Auseinandersetzung, Begrenzung und Andersartigkeit übermittelt. Das Selbst bildet und entfaltet sich im Spiegel freilassender, liebevoller Bestätigung, akzeptierender und erklärbarer Verschiedenheit und verstehbarer Begrenzung. So erfährt der gesunde Narzisst im Laufe seiner Entwicklung immer besser, wer er wirklich ist, wie er sich von allen anderen unterscheidet, worin er verbunden ist mit anderen und worin er anders ist.
Begrenzung wird nicht als leidvolle Schmach oder Schuld erlebt, sondern als unvermeidliche Realität. Sie wird nicht zum unheilvollen Antreiber sinnloser Bemühungen, sondern ist Anlass, die eigenen Möglichkeiten zu nutzen und Stolz auf die individuelle Einmaligkeit zu erleben. Lebenslust erwächst aus der Selbstverwirklichung und nicht aus erfolgreicher Nachahmung und fremdbestimmter ehrgeiziger Leistungssteigerung. Der gesunde Narzisst lebt aus sich heraus und für sich stets in Beziehung zur sozialen Gemeinschaft und in kritischer Auseinandersetzung mit den realen Möglichkeiten. Ist die persönliche Verantwortung für alle Entscheidungen akzeptiert und besteht Einsicht in unvermeidbare Abhängigkeiten, so kann der fortwährende potentielle Konflikt zwischen Abhängigkeit und Autonomie dynamisch und nicht stereotyp – gemäß Vorschriften, Regeln und Gewohnheiten – gelöst werden. Dann fließt Lustgewinn aus verantworteter Autonomie und zugelassener Abhängigkeit.
Die lustvolle Spannung des Lebens entsteht aus der Wahl- und Entscheidungsfreiheit zwischen originärer Lebensgestaltung und Einsicht in die Notwendigkeit. In der akzeptierten und frei gewählten Abhängigkeit begegnen uns die Wirkungen gesunder Mütterlichkeit, in der lustvollen Gestaltung der Selbständigkeit die positiven Folgen unterstützender und ermutigender Väterlichkeit. «Alternativlosigkeit» kennt ein gesunder Narzissmus nicht; sie ist Ausdruck erheblicher narzisstischer Einengung. Gesunder Narzissmus findet immer Alternativen und dynamische Antworten in den unvermeidbaren Lebenskonflikten, für die es niemals die stets gleichen, einzig richtigen Antworten gibt.
Einem Menschen mit gesundem Narzissmus fällt es nicht schwer zu sagen, wer er wirklich ist, und zugleich zu realisieren, dass er sich dynamisch verändern kann. Er kann sich als liebenswerter Mensch sehen, kann seine Fähigkeiten entfalten und wird seine Begrenzungen ohne besondere Klagen akzeptieren. Er ist zufrieden mit der Fähigkeit, Bedürfnisse zu erkennen und diese sich im Rhythmus natürlicher Anspannung und Entspannung zu erfüllen. Der erlebte Selbstwert und die vorhandene Selbstliebe ermöglichen auch die Fremdliebe («Liebe deinen Nächsten wie dich selbst») und die Wertschätzung anderer mit ihren jeweiligen Fähigkeiten und Begrenzungen. Die eigene Zufriedenheit ist die Basis für eine abgestimmte Partnerschaft, in der nichts selbstverständlich ist, sondern alles empathisch verhandelt wird. Nur die eigene Selbstgewissheit ermöglicht auch Freundschaften und soziale
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