Die narzisstische Gesellschaft
Defizit ist, desto stärker muss die Abwehr nach innen sein und desto empathieloser lassen sich Entscheidungen treffen und rechtfertigen.
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25 Das Leben auf der Titanic
Schon immer hat mich das Schicksal der Menschen auf der Titanic beschäftigt, und zwar verbunden mit der Frage, wie ich mich wohl verhalten würde angesichts des absehbaren Untergangs. Natürlich handelt es sich dabei um eine Frage, die man sich eigentlich jeden Tag stellen müsste, denn dass wir sterben werden, ist gewiss, lediglich der Zeitpunkt nicht. In der Regel schieben wir diesen Gedanken jedoch weit von uns weg und leben so, als wenn es kein Ende gäbe. Erst wenn sich Krankheiten oder Altersgebrechen einstellen, suchen wir nach Antworten für die verbleibende Lebenszeit.
Ganz anders aber, wenn wir uns urplötzlich aufgrund einer Katastrophe mit dem unvermeidbaren Ende auseinandersetzen müssen. So ist die Titanic für mich ein Inbegriff der gesellschaftlichen Situation geworden, in der ich lebe: bei klarem Bewusstsein und ausreichendem Verstand zusehen zu müssen, wie wir unweigerlich kollektiv unseren Untergang vollziehen und dem nicht mehr Einhalt gebieten können. Ich kenne viele Reaktionsvarianten: Am liebsten würden wir wohl weiterhin so tun, als sei die auf uns unerbittlich zurollende Katastrophe nur unseriöse Panikmache. Doch es gibt noch viele andere Möglichkeiten, bis zum bitteren Ende in der narzisstischen Verleugnung zu verharren: So könnte ich den Kapitän und die Mannschaft anklagen, ich könnte mich vorzeitig ins Meer stürzen oder besaufen, ich könnte das Orchester zu einem vielleicht letzten Tanz aufspielen lassen.
Die einzige wirkliche Alternative zu solchen Formen der Leugnung sehe ich im Ausstieg aus der narzisstischen Abwehr. Ohne vorbereitende Erfahrungen wird das jedoch schwerlich oder gar nicht gelingen. Das ist dann vor allem eine Frage der verbleibenden Zeit und des sozialen Milieus, das förderlich oder hinderlich sein kann. Das eigene Leben müsste in seinen begrenzten und verlorenen Möglichkeiten, den schon längst verpassten und den nie zugelassenen, auch den verhinderten Chancen betrauert werden. Ich bräuchte also Raum und Zeit, um den Schmerz zuzulassen und zu weinen, um frei zu werden und das Schicksal anzunehmen. Bestimmt würde ich nach Möglichkeiten forschen, noch etwas Gutes zu essen zu bekommen, vielleicht eine besondere Flasche Rotwein und ganz bestimmt noch mal guten Sex. Aber dann wünschte ich mir Kontakt zu Freunden, auf jeden Fall zur Partnerin mit der Möglichkeit, die gegen alle narzisstische Abwehr mühsam erworbene Fähigkeit zu realisieren, mich ganz offen und unverstellt mitzuteilen, verstanden zu werden und im Gegenzug durch ebenso ehrliche Kommunikation geehrt zu werden. Ich bin überzeugt davon, dass der Halt des Miteinander, des freien Austauschs und der zugelassenen echten Gefühle nicht nur Trost, sondern eine Befreiung bedeutet, die auch die Annahme des Unvermeidbaren ermöglicht. Diese Phantasie ist mir hilfreiche Orientierung auf dem Kollisionskurs unserer Wachstumsgesellschaft. Wenn die durchaus berechtigten Flüche verstummen, das verzweifelte Kämpfen abflaut und die Resignation überstanden ist, macht nur eines noch Sinn: dass alle Energie in soziale Netzwerke fließt, welche es möglich machen, die narzisstischen Masken abzulegen, das falsche Leben zu beenden und mit Schmerz und Trauer zu dem authentischen Kern zu finden, so unentfaltet oder beschädigt er auch sein mag. Die narzisstische Kompensation ermöglicht keine erlebbare Würde, aber aus dem Kontakt zum «Kernselbst» können befreiende Augenblicke der Zufriedenheit und des Glücks erwachsen.
Ich kann nicht genau sagen, was das «Kernselbst» eigentlich ist. In der therapeutischen Arbeit begegnen mir jedoch Befindlichkeiten von vollkommener Zufriedenheit, ein sicheres Gefühl von: «Ja, so ist es! Ja, das bin ich!» Spürbar wird es vor allem als körperliche Entspannung, als warmes Durchströmen und wohlige Ruhe, in der nichts mehr gewollt und gebraucht wird und auch die Gedanken Pause haben. Ein solcher Zustand dauert meist nur wenige Minuten und wird häufig mit Lachen und Heiterkeit, aber immer mit neuem Elan beendet. Wer ihn erfahren hat, hat eine Orientierung für sein Leben gefunden.
Die «Titanic» ist eine traurige Metapher für unsere Lebensform. Man kann natürlich auch die Position vertreten, gar nicht erst ein «Schiff» besteigen zu wollen, das sich nicht wirklich beherrschen lässt und
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