Die narzisstische Gesellschaft
Deswegen verwundert es nicht, wenn später mörderische Gewalt ausgeübt wird. Sie ist das Äquivalent der aufgestauten narzisstischen Wut, die sich abreagieren und Rache nehmen will. Dazu werden Opfer gebraucht, die sich stets leicht in Gestalt sozial Schwächerer oder Andersartiger und Fremder finden lassen. Politisch-ideologischer und religiöser Fanatismus erklärt alle, die anders als man selbst sind oder denken, automatisch zu Feinden, die man bekämpfen und am Ende vernichten muss. Bei den ganz Primitiven – wie den Hooligans – genügt schon ein Tor der gegnerischen Fußballmannschaft, um einen Rachefeldzug anzufangen. Die Irrationalität der Gründe ist nahezu ein Gradmesser für das Ausmaß der narzisstischen Kränkbarkeit. Diese Massenerkrankung müssen wir zur Kenntnis nehmen, wenn wir die unfassbare Irrationalität eines Völkermordes, des Holocaust, der Kriegsbereitschaft eines gesamten Volkes verstehen wollen. Ohne eine schwerwiegende narzisstische Erkrankung der Mehrheit des deutschen Volkes wären ein Hitler und ein real existierender Nationalsozialismus nicht möglich gewesen. Die persönliche Dimension der Schuld, die individuelle Krankheit unserer Eltern, die sie unverstanden und unaufgelöst an uns weitergegeben haben, ist auch eine Quelle der narzisstischen Erkrankung der gegenwärtigen Gesellschaft.
Aus der narzisstischen Perspektive lässt sich selbst die Spaltung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg in ein sozialistisches (kommunistisches) und ein kapitalistisches (imperialistisches) Lager als ein kollusives Zusammenspiel von Größenselbst und Größenklein verstehen – jenen beiden Seiten des Bewältigungsversuches narzisstischer Verletzung. So machen sowohl der manische Wiederaufbau mit dem daraus resultierenden «Wirtschaftswunder» wie auch die zwangsläufige Misswirtschaft und der Verfall der «Volksrepubliken» Sinn. Manie und Sucht einerseits, Depression und Zwang andererseits sind die Hauptsymptome des Größenselbst bzw. des Größenklein. Ich lege Wert darauf, dass sowohl die – am Ende destruktive – Wachstumsideologie, die nur äußeren Wohlstand und als soziale Marktwirtschaft nur scheinbare Verteilungsgerechtigkeit schafft, als auch das Leiden an Mangelwirtschaft und repressivem Staatssystem nicht schicksalhafte Zustände und Verläufe sind, sondern von den Menschen zu ihrer Abwehr individueller narzisstischer Not gebraucht und deshalb auch (unbewusst) gewollt werden. Selbst Oppositionelle und Gegner spielen bei der narzisstischen Abwehr mit, solange sie keine grundsätzliche Systemkritik üben und reale Alternativen aufzeigen. Mittäter und Dissidenten können sich sehr wohl in ihrer narzisstischen Problematik gleichen; ihre Kompensation ist nur unterschiedlich organisiert. Gemeinsam ist ihnen auch die Abwehr der Erkenntnis der eigentlichen Ursache ihrer politisch ausagierten Motivation. Ähnliches lässt sich von «Links» und «Rechts» sagen – Fundamentalisten und Extremisten tragen die gleiche individuelle Problematik aus, lediglich an einander entgegengesetzten Polen.
Die rationalen Argumente sind immer zweitrangig; im Meinungsstreit haben immer beide Seiten etwas recht. Entscheidend ist die narzisstische Not, aus der heraus politisch um eine Position gekämpft wird; denn dort hat die irrationale Energie ihre Quelle, die sich dann in politischen Entscheidungen niederschlägt.
Die Gefährlichkeit der narzisstischen Abwehr (Größenselbst und Größenklein) liegt darin begründet, dass sie sich – um ihren Zweck zu erfüllen – emotional nach innen abschotten muss und deshalb gefühlsmäßige Blockaden entwickelt. Die coole, sachliche, souveräne Maske ist dann keine besondere Stärke, sondern Symptom der Gefühlsabwehr. Deshalb werden in der Regel auch Gefühle als Zeichen von Schwäche und Unvernunft gebrandmarkt. Das Verhängnisvolle an der Gefühlsblockade ist, dass sie zur einseitigen Herrschaft rationaler Argumente führt, die nicht mehr von Gefühlen getragen werden, etwa dahingehend, was die Folgen von Entscheidungen individuell bewirken.
Atomreaktoren kann derjenige bauen und betreiben, den die Folgen von Tschernobyl und Fukushima nicht mehr emotional erreichen. Schulden kann der machen, den das Leben der Kinder und Enkel emotional nicht mehr wirklich berührt. An den Börsen können nur Menschen zocken, die keinerlei emotionalen Bezug mehr zu ihrer Entscheidung haben, also schwer narzisstisch Kranke! Je größer das eigentliche narzisstische
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