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Die Naschmarkt-Morde

Titel: Die Naschmarkt-Morde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Café Sperl durchdiskutierten – Nacht sowie den Geschehnissen des darauffolgenden Vormittags. Er arbeitete an einem Artikel über die Naschmarktmorde. Darum ging es vordergründig – berufsbedingt.
    Tatsächlich aber ging es ihm um mehr: Leo Goldblatt rang mit der Wahrheit. Denn Wahrheit – das wurde Goldblatt bei seinen Schreibversuchen schmerzlich bewusst – war kein auf objektiven Fakten basierender Sachverhalt, den es niederzuschreiben galt. Die Wahrheit war vielmehr ein Sammelsurium von Fakten, das je nach Betrachtungsweise ein anderes, wahres Gesamtbild ergab. Die Wahrheit hatte im Fall der Naschmarktmorde mehrere Gesichter, und Goldblatt wusste nicht, welches Gesicht er nun porträtieren sollte.
    Bei seinen verzweifelten Anstrengungen wurde ihm eines immer klarer: Seine Leser wollten sicher nicht ein Sowohl-als-auch, eine Variation von möglichen Wahrheiten serviert bekommen. Sie gierten vielmehr nach der einen, einzigen Wahrheit. Als Goldblatt in seinen Überlegungen an diesem Punkt angelangt war, beschloss er, folgende Vorgangsweise zu wählen: sich strikt an die Fakten zu halten, Spekulationen und Vermutungen weitestgehend auszuschalten, gleichzeitig aber nicht die ganze, wahre Wahrheit zu berichten. Also schrieb er:
     
    An der Türklingel einer herrschaftlichen Wohnung des Hauses Fichtegasse 8, Innere Stadt, läutete am Vormittag des 16. Septembers der k. k. Polizeiinspector Joseph Maria Nechyba. Als nach mehrmaligem Läuten niemand die Tür öffnete, erkundigte sich der Inspector bei der Hausmeisterin, ob denn niemand in der Wohnung anwesend sei. Er erhielt die Auskunft, daß der junge gnädige Herr heute Morgen mit umfangreichem Gepäck – welches ein Dienstmann in einen Fiaker eingeladen hatte – das Haus mit unbekanntem Ziel verlassen hätte. Nichtsdestotrotz müßten aber die Frau Baronin sowie das Dienstmädchen in der Wohnung anwesend sein, denn beide hätte die Hausmeisterin heute noch nicht das Haus verlassen sehen. Diese Zeugenaussage stimmte den Inspector nachdenklich, und er schickte die Hausmeisterin einen Schlosser holen, der kurze Zeit später die Wohnungstür mittels eines Dietrichs öffnete. Hierauf betrat der Polizist – gefolgt von der Hausmeisterin und dem Schlosser – die geräumige Wohnung.
     
    Bis hierher gelangte Goldblatt ohne Probleme mit seiner Version der Wahrheit. All das war zweifelsfrei wahr. Und doch wiederum nicht. Denn eines verschwieg Goldblatt aus gutem Grund: seine persönliche Anwesenheit während der gesamten Amtshandlung. Goldblatt überlegte kurz, kratzte sich am Schädel und fuhr folgendermaßen mit dem Artikel fort:
     
    Das lange, gangartige Vorzimmer der Wohnung führte zu einer Reihe von Räumen, deren Türen alle – bis auf eine – verschlossen waren. Inspector Nechyba ignorierte die geschlossenen Türen und steuerte – seinem kriminalistischen Instinkt folgend – auf die offene Tür zu, die in den Salon führte. Hier bot sich dem Eintretenden ein Bild des Grauens: Auf dem Fußboden vor dem großen Tisch, der in der Mitte des Salons stand und auf dem sich ein Kerzenleuchter mit abgebrannter Kerze sowie ein aufgeschlagenes Buch befanden, lag der mit einem Morgenmantel und einem Seidennachthemd bekleidete reglose Körper der Baronin Gottburga von Schönthal-Schrattenbach (geborene Gräfin Hainisch-Hinterberg, Cousine zweiten Grades des k. u. k. Obersthofmeisters seiner Exzellenz, Fürst Montenuovo). Um den Hals der Baronin war ein Seidenschal geschnürt und verknotet, der den Hals strangulierte, neben der Toten lag ein weiterer Kerzenleuchter. Inspector Nechyba wies den Schlosser und die Hausmeisterin aus der Wohnung. Letztere schickte er auf das nächste Polizeikommissariat, um einen Polizeiarzt sowie zur Untersuchung des Tatortes Polizeiagenten seiner Gruppe holen zu lassen. Nach Eintreffen der Verstärkung begann die penible Untersuchung aller Räume, die zu einer weiteren grausigen Entdeckung führte: In einem Kämmerchen hinter der Küche, in dem normalerweise Besen und andere hauswirtschaftliche Geräte aufbewahrt wurden, fand man eine weitere Leiche. Bei dieser ebenfalls strangulierten weiblichen Person handelte es sich um das Dienstmädchen Theresia Schindel.
     
    Hier hielt Goldblatt abermals inne. Viel hätte er darum gegeben, die Wahrheit schreiben zu dürfen. Dass nämlich er persönlich die zweite Leiche in der Besenkammer entdeckt hatte. Aber diese Wahrheit durfte, konnte, wollte er nicht schreiben. Schließlich hatte er Nechyba

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