Die Nebel von Avalon
beiden Reiche zeigen, über die er zu herrschen hat.«
Und wieder senkte Viviane das Haupt. »Bringt ihn also auf die Dracheninsel.«
»Soll es die alte Probe sein? Uther mußte sich ihr nicht unterziehen…«
»Uther war ein Krieger; es genügte, ihn zum Herren des Drachens zu machen«, sagte Viviane. »Der Knabe ist jung und unerfahren. Er muß die Prüfung ablegen und sich darin beweisen.«
»Und wenn er versagt…«
Vivianes Mund wurde schmal: »Er darf nicht versagen!«
Taliesin wartete, bis ihre Blicke sich wieder trafen, und wiederholte: »Und wenn er versagt…«
Sie seufzte: »Zweifellos steht Lot bereit, wenn es dahin kommen sollte.«
»Du hättest einen von Morgauses Söhnen zu dir nehmen und hier in Avalon erziehen sollen«, sagte der Merlin. »Gawain ist ein vielversprechender Bursche… heißblütig und immer zu einem Streit bereit. Ein Stier, während Uthers Sohn ein Hirsch ist. Ich glaube, Gawain hat das Zeug zum König, und er ist auch ein Sohn der Göttin… Morgause war die Tochter deiner Mutter, und ihre Söhne sind von königlichem Geblüt.«
»Ich traue Lot nicht«, erwiderte die Herrin heftig, »und Morgause traue ich noch weniger!«
»Und doch stehen die Sippen des Nordens hinter Lot, und ich glaube, die Stämme würden ihm huldigen…«
»Aber alle, die zu Rom stehen… niemals«, entgegnete die Herrin, »dann gäbe es zwei Reiche in Britannien. Sie würden ewig miteinander im Krieg liegen, und keines von beiden wäre stark genug, die Sachsen und die Nordmänner zurückzuhalten. Nein, Uthers Sohn muß es sein. Er
darf
nicht versagen!«
»Der Göttin Wille geschehe!« sagte der Merlin streng. »Hüte dich davor, deinen Willen für ihren zu halten!«
Viviane bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. »Wenn er versagt… wenn er versagt, war alles umsonst«, klagte sie heftig, »… alles, was ich Igraine antat; alles, was ich denen angetan habe, die ich liebe. Vater, habt Ihr gesehen, daß er versagt?«
Der alte Mann schüttelte sein weißes Haupt, und in seiner Stimme schwang Mitleid. »Die Göttin tut mir ihren Willen nicht kund«, antwortete er. »Du hast gesehen, daß dieser Junge die Kraft besitzen würde, Britannien zu einen. Ich warne dich vor deinem Stolz, Viviane… du glaubst zu wissen, was für jeden Mann und für jede Frau das beste ist. Du hast Avalon gut regiert…«
»Aber ich bin alt«, sagte sie, hob die Augen und sah das Mitleid auf seinem Gesicht.
»Und eines Tages… in naher Zukunft…« Der Merlin senkte den Kopf. Auch er stand unter diesem Gesetz. »Wenn die Zeit gekommen ist, wirst du es wissen. Noch ist es nicht soweit, Viviane.«
»Nein«, sagte sie und kämpfte gegen die plötzliche Verzweiflung an, die sie überfallen hatte, wie es in letzter Zeit manches Mal geschah. Dann glühte ihr Körper, und quälende Gedanken marterten sie.
»Wenn die Zeit gekommen ist, und ich nicht mehr sehe, was die Zukunft bringt, werde ich wissen, daß ich die Herrschaft über Avalon einer anderen zu übergeben habe. Morgaine ist noch sehr jung. Raven, die ich zwar von Herzen liebe, hat sich jedoch dem Schweigen und der Stimme der Göttin geweiht. Noch ist es nicht soweit, aber wenn die Zeit zu früh kommt…«
»Wann immer es ist, Viviane, es wird zur rechten Stunde sein«, sagte der Merlin. Er erhob sich und stand groß vor ihr. Viviane sah, daß er leicht schwankte und sich schwer auf seinen Stock stützte. »Ich werde den Jungen auf die Dracheninsel bringen, wenn das Tauwetter einsetzt. Dann werden wir sehen, ob er zum König gemacht werden kann. Du wirst ihm das Schwert und den Kelch geben zum Zeichen des ewigen Bandes zwischen Avalon und der Welt draußen…«
»Das Schwert, gewiß«, erwiderte Viviane, »den Kelch… das weiß ich nicht.«
Der Merlin neigte den Kopf. »Das zu entscheiden überlasse ich dir und deiner Weisheit. Du bist die Stimme der Göttin und nicht ich. Doch du wirst die Göttin für ihn nicht sein…«
Viviane schüttelte den Kopf. »Er wird der Mutter nach dem Sieg begegnen«, sagte sie, »und aus ihrer Hand wird er das Schwert des Triumphes entgegennehmen. Aber zuvor muß er sich beweisen und der jungfräulichen Jägerin begegnen…« Der Anflug eines Lächelns lag auf ihrem Gesicht: »Was danach auch geschehen mag, ein solches Wagnis wie mit Uther und Igraine werden wir nicht wieder eingehen. Wir werden die königliche Linie festigen, geschehe, was geschehen mag.«
Nachdem der Merlin sie alleingelassen hatte, saß Viviane noch lange am
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