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Die Nebel von Avalon

Titel: Die Nebel von Avalon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer Bradley
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Feuer, und vor ihrem Geist zogen die Bilder vorüber. Sie erblickte nur das Vergangene und versuchte nicht, den Nebel der Zeit zu durchdringen, der vor dem Zukünftigen lag.
    Auch sie hatte vor Jahren – vor so vielen Jahren, daß sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, wie viele es waren – ihre Jungfräulichkeit dem Gehörnten Gott dargebracht, dem Großen Jäger, dem Herrn der
    Lebenden Spirale. Sie verschwendete kaum einen Gedanken an die Jungfrau, die sich diesmal für den jungen König bereitzuhalten hatte.
    Ihre Gedanken wanderten in die Vergangenheit, als sie die Göttin beim Ritual der Großen Ehe verkörperte…
    … es war für sie nie mehr als eine Pflicht gewesen… manchmal angenehm, manchmal schmerzlich… aber immer im Bann der Großen Mutter, die über ihr Leben herrschte, seit sie nach Avalon gekommen war. Plötzlich beneidete sie Igraine. Und eine teilnahmslose Stimme in ihr fragte, wie sie eine Frau beneiden konnte, die alle ihre Kinder an den Tod oder an Pflegeeltern verloren hatte und jetzt ihr Leben als Witwe hinter Klostermauern beenden mußte.
Ich beneide sie um die Liebe, die sie erlebt hat… ich habe keine Tochter. Meine Söhne sind mir fremd und leben fern von mir… ich habe nie geliebt,
dachte sie.
Ich habe nie erfahren, was es heißt, geliebt zu werden. Furcht, Ehrfurcht, Ehrerbietung… das wurde mir entgegengebracht … doch Liebe nie… und es gibt Zeiten, in denen ich denke, ich würde alles hingeben für den Blick eines Menschen, für einen Blick, wie Uther ihn Igraine bei der Hochzeit geschenkt hat.
Viviane seufzte niedergeschlagen und wiederholte halblaut die Worte des Merlin. »Es macht keinen Sinn, dem Schnee des vergangenen Winters nachzuweinen.« Sie hob den Kopf, und die diensttuende Priesterin betrat lautlos das Zimmer.
    »Herrin…?«
    »Schick mir… nein«, sagte sie und änderte ihre Absicht. »Laß das Mädchen schlafen.«
    Es ist nicht wahr, daß ich nie geliebt habe oder nie geliebt wurde. Ich liebe Morgaine über alle Maßen, und sie liebt mich.
    Aber nun würde wohl auch diese Liebe enden. Der Wille der Göttin würde geschehen.

14
    Die schlanke Sichel des neuen Mondes stand am westlichen Himmel über Avalon. Morgaine ging barfuß und gemessenen Schritts den Prozessionsweg hinan, der sich wie eine Spirale um den Berg wand. Sie war so blaß wie der junge Mond. Das Haar floß ihr über die Schultern, und sie trug keinen Gürtel um das Gewand. Sie wußte, die stummen Wachen und die Priesterinnen beobachteten sie, damit niemand die Stille mit einem ungeweihten Wort durchbrach. Der dichte Vorhang ihrer dunklen Haare verdeckte ihre gesenkten Lider. Trotzdem ging sie sicheren Fußes – sie mußte nichts sehen. Raven folgte ihr lautlos, ebenfalls barfuß, ungegürtet, mit wallendem Haar und geschlossenen Augen. Sie stiegen höher und höher in der zunehmenden Dämmerung. Nur wenige Sterne hingen blaß am tiefblauen Himmel. Vor ihnen erhob sich grau und düster der Ring der Steine. Im magischen Kreis flackerte ein einsames, fahles Licht – kein Feuer –, ein Irrlicht, ein Hexenfeuer, eine Zauberflamme…
    Im letzten Schimmer des verlöschenden Mondes, der sich einen Augenblick lang im glänzenden See weit unten spiegelte, trat ihnen schweigend eine Priesterin entgegen. Sie war noch ein Mädchen und trug ein Gewand aus ungefärbter Wolle. Ihre geschorenen Haare wirkten wie dunkler Flaum. Sie reichte Morgaine einen Becher; Morgaine nahm ihn, trank schweigend und übergab ihn Raven, die ihn bis zum letzten Tropfen leerte. Im ersterbenden Licht funkelte er silbern und golden. Morgaine nahm aus unsichtbaren Händen das Große Schwert entgegen. Das unerwartete Gewicht raubte ihr schier den Atem. Barfuß und frierend – aber ohne die Kälte zu spüren – schritt sie den Kreis im Ring der Steine ab. Raven ergriff den langen Speer und stieß ihn tief ins Herz der geisterhaften Flamme. Ein Licht züngelte auf und entzündete das Seil, das dort lag. Raven folgte Morgaine mit dem Seil. Plötzlich bildete sich ein Feuerkreis und erhellte mit den blassen, schwachen Flammen die Dunkelheit. Im fahlen Lichtschein traten sie vor bis in die Mitte des Kreises und sahen Vivianes altersloses, zeitloses Gesicht in der Luft schweben – das strahlende Antlitz der Göttin! Morgaine wußte, daß die Wirkung durch eine Leuchtsubstanz hervorgerufen wurde, die man auf Wangen und Stirn strich. Trotzdem nahm es ihr jedesmal aufs neue den Atem.
    Strahlende, entkörperte Hände legten etwas in

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