Die Nebel von Avalon
vernahmen, der zwischen den Welten widerhallte… Auf den Schrei folgte tiefes Schweigen… ein Schweigen, das schließlich Atmen erfüllte, der angehaltene Atem der unsichtbaren Eingeweihten, die einen Kreis um diese schreckliche Einsamkeit bildeten, in der es nur die drei reglosen Priesterinnen gab. Dann rief Raven keuchend und mit erstickter Stimme, als mache ihr dieses lange Schweigen das Sprechen zunichte:
»Ahhh… siebenmal dreht sich das Rad, das Rad mit den dreizehn Speichen, das Rad, das sich am Himmel dreht… siebenmal schenkt die Mutter ihrem dunklen Sohn das Leben… Sie rennen! Sie rennen, getrieben von der Brunst des Frühlings… sie kämpfen, sie wählen ihren König… ah, das Blut, das Blut… und der größte, er springt, und an seinem stolzen Geweih klebt Blut…«
Wieder herrschte langes Schweigen. Morgaine sah in der Dunkelheit hinter geschlossenen Lidern die brünstigen Hirsche dahinjagen; sie sah, was sie in einem halbvergessenen Augenblick einst in der Silberschale gesehen hatte: Einen Mann unter den Hirschen, der sich wehrte und kämpfte…
»Er ist der Sohn der Göttin… er rennt, er rennt… der Gehörnte muß sterben… und der Gehörnte muß gekrönt werden… die Jungfräuliche Jägerin muß den König zu sich rufen… sie muß sich dem Gott darbringen… ah, das alte Opfer, das alte Opfer… ich brenne, ich brenne…« Ravens Worte überstürzten sich und erstarben in einem langen schluchzenden Schrei. Durch geschlossene Augen sah Morgaine, wie die Priesterin hinter ihr besinnungslos zu Boden sank. Sie keuchte, und ihr Keuchen war der einzige Laut im dichter werdenden Schweigen.
Von irgendwoher drang der Ruf einer Eule… einmal, zweimal, dreimal.
Aus der Dunkelheit lösten sich stumm dunkle Priesterinnen mit dem blauen Zeichen auf der Stirn. Vorsichtig hoben sie Raven auf und trugen sie davon. Auch Morgaine fühlte sich hochgehoben; und während sie aus dem Kreis getragen wurde, ruhte ihr schmerzender Kopf liebevoll an der Brust einer Priesterin. Danach wußte sie nichts mehr.
Drei Tage später, als sie wieder etwas zu Kräften gekommen war, ließ Viviane sie rufen.
Morgaine stand auf und versuchte, sich anzukleiden. Sie war noch immer sehr schwach und nahm dankbar die Hilfe einer jüngeren Priesterin an. Sie war froh, daß das Mädchen unter einem Schweigegelübde stand und nicht mit ihr sprach. Das lange Fasten, die schreckliche Krankheit, welche die Zauberkräuter hervorgerufen hatte, die schier unerträgliche Spannung des Rituals zehrten noch immer an ihr. Am Abend zuvor hatte sie ein wenig Suppe zu sich genommen und an diesem Morgen in Milch geweichtes Brot. Trotzdem fühlte sie sich nach der langen Qual ausgebrannt und leer. Ihr Kopf schien zu bersten, und ihr Neumondbluten hatte sie mit einer Heftigkeit wie nie zuvor heimgesucht. Auch dies, wußte sie, war wohl eine Nachwirkung der Heiligen Kräuter. Krank und teilnahmslos wünschte sie, Viviane hätte sie in Frieden gelassen. Aber Morgaine beugte sich dem Willen der Herrin, wie sie sich dem Willen der Göttin gebeugt hätte, wenn sie sich vom Himmel herabbegeben und einen Wunsch geäußert hätte. Schon wurden ihr die Gewänder übergestreift, die Haare zu einem dicken Zopf geflochten und mit dem Hirschlederband umwunden; der blaue Halbmond auf der Stirn mußte nachgezogen werden, und dann ging sie den gewohnten Pfad zum Haus der Herrin.
Morgaine besaß inzwischen das Vorrecht, ohne Klopfen oder Voranmeldung einzutreten. Irgendwie stellte sie sich immer vor, daß Viviane sie in diesem Haus erwartete – auf dem thronähnlichen Stuhl, als sei sie die Göttin auf dem dunklen Thron. Aber heute ging Viviane am anderen Ende des Zimmers auf und ab. Es brannte kein Feuer. Die Herrin trug das einfache Gewand aus ungefärbter Wolle und hatte die Kapuze über den Kopf gezogen. Zum ersten Mal erkannte Morgaine, daß Viviane eine Priesterin war – aber keine Priesterin der Jungfrau oder der Großen Mutter, sondern der Weisen Alten, die auch die Alte Todesbotin war. Vivianes Gesicht wirkte faltig und hager. Morgaine dachte:
Natürlich, wenn das Ritual schon Raven und mich aufs Lager geworfen hat, obwohl wir beide jung und stark sind, wie muß dann erst Viviane gelitten haben, die im Dienst der Göttin alt geworden ist, der wir uns alle geweiht haben?
Viviane drehte sich um und lächelte sie liebevoll an. Wieder spürte Morgaine die alte Liebe und Zärtlichkeit in sich aufsteigen. Aber wie es sich für eine jüngere Priesterin
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