Die Nebel von Avalon
Priesterin. Igraine begriff voller Entsetzen, was sie sah. Viviane in ihrem Gewand aus ungefärbter Wolle war hochschwanger, ihr Bauch wölbte sich, ihr Gesicht war von Schmerzen gezeichnet. Sie ging ruhelos auf und ab, auf und ab. Igraine erinnerte sich, daß die Hebammen ihr befohlen hatten, das gleiche zu tun, als bei ihr die Wehen einsetzten…
Nein! Nein! O Große Mutter Ceridwen, heilige Göttin, o nein… so starb unsere Mutter! Und Viviane war sich so sicher gewesen, daß sie für ein Kind zu alt war. Jetzt wird sie sterben. In ihrem Alter kann sie nicht gebären und leben… warum nur hat sie keinen Trank genommen, um sich von dem Kind zu befreien, nachdem sie wußte, daß sie empfangen hatte? Das macht alle ihre Pläne zunichte. Es ist das Ende… Auch ich habe mein Leben durch einen Traum zerstört…
Und dann schämte sich Igraine, daß sie an ihr Elend dachte, während Viviane sich ins Kindbett legen sollte, und man kaum hoffen konnte, daß sie sich wieder daraus erhob.
Weinend vor Entsetzen und Grauen, konnte sie ihren Blick nicht einmal vom Spiegel wenden. Plötzlich hob Viviane den Kopf und blickte über die Priesterin hinweg, auf deren Arm sie sich stützte. In ihre vor Angst und Qualen stumpfen Augen trat ein Ausdruck des Erkennens und der Zärtlichkeit. Und Viviane schien direkt in Igraines Kopf zu sprechen.
Mein kleines Mädchen… kleine Schwester… Grainne…
Igraine wollte vor Angst, Leid und Qual nach ihrer Schwester rufen. Aber jetzt konnte sie Viviane nicht mit dem Gewicht ihrer Kümmernisse beschweren, und so verströmte sie ihr ganzes Herz in einem einzigen Aufschrei.
Ich höre dich, meine Mutter, meine Schwester, meine Priesterin und meine Göttin… Igraine, ich sage dir, verliere die Hoffnung selbst in dieser Stunde nicht. Verzweifle nicht! Hinter all unserem Leiden liegt ein Sinn. Ich habe es gesehen… verzweifle nicht…
Und während sich die Haare an ihren Armen aufrichteten, spürte Igraine wirklich einen Augenblick lang eine leichte Berührung auf ihrer Wange wie einen federleichten Kuß, und Viviane flüsterte:
»Kleine Schwester…«
Igraine sah, wie das Gesicht ihrer Schwester sich vor Schmerzen verzerrte und sie ohnmächtig in die Arme der Priesterin sank. Dann kräuselte der Wind das Wasser auf dem Spiegel, und Igraine erblickte ihr eigenes Gesicht, das ihr tränenüberströmt aus dem Wasser entgegenleuchtete.
Sie zitterte wie Espenlaub, griff nach einem Umhang, nach irgend etwas, um sich rasch zu wärmen. Sie schleuderte den Zauberspiegel in das Feuer, warf sich auf das Bett und weinte.
Viviane hat mir gesagt, ich soll nicht verzweifeln. Aber was kann ich anderes tun als verzweifeln, wenn sie stirbt?
Igraine blieb liegen und weinte sich in eine Art Betäubung. Schließlich, als sie keine Tränen mehr hatte, stand sie erschöpft auf und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Viviane starb gerade, war vielleicht schon tot. Aber mit ihren letzten Worten hatte die Schwester ihr aufgetragen, die Hoffnung nicht zu verlieren. Sie kleidete sich an und legte den Mondstein um den Hals, den Viviane ihr geschenkt hatte. Plötzlich bewegte sich die Luft vor ihr, und sie sah Uther.
Diesmal wußte Igraine, daß es sich um ein Gesicht handelte und nicht um den Mann selbst. Kein Mensch, und ganz bestimmt nicht Uther Pendragon, hätte in ihr gutbewachtes Gemach vordringen können, ohne von jemandem gesehen und aufgehalten zu werden. Er trug einen schweren Umhang, aber um seine Arme – und dadurch wußte Igraine, daß es kein Traum war – ringelten sich die Schlangen, die sie gesehen hatte, als sie von seinem Leben in Atlantis träumte. Doch jetzt waren es keine goldenen Armringe, sondern lebendige Schlangen, die zischend den Kopf erhoben. Aber Igraine fürchtete sich nicht.
»Meine Geliebte«, sagte er. Obwohl sie den Klang seiner Stimme vernahm, lag Schweigen über dem Raum mit dem flackernden Feuer. Sie hörte durch das Flüstern der Stimme das leise Knistern der Wacholderzweige. »Ich komme zu dir am Tag der Wintersonnenwende. Ich schwöre es, ich werde kommen, gleichgültig, was sich mir in den Weg stellen mag. Halte dich bereit. Erwarte mich zur Wintersonnenwende…«
Dann war sie allein. Nur die Sonne schien ins Zimmer, und das Glitzern des Meeres drang herein. Drunten im Hof hörte sie das Lachen von Morgause und ihrer kleinen Tochter.
Igraine holte tief Luft und leerte ruhig den Becher. Ihr Magen war leer; sie spürte, wie ihr der Wein zu Kopf stieg und sie mit einem
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