Die Nebel von Avalon
ihr, und sie blieb wie angewurzelt stehen.
Gorlois stand vor ihr. Quer über das Gesicht zog sich eine tiefe Schwertwunde, und er sah sie mit unaussprechlichem Leid zugleich vorwurfsvoll und traurig an. Es war das Gesicht, das sie schon einmal gesehen hatte… der Doppelgänger, der Todesbote! Gorlois hob langsam die Hand, und sie sah, daß drei Finger und der Ring fehlten.
Er wirkte geisterhaft blaß, aber in seinem Blick lagen Schmerz und Liebe. Seine Lippen formten ihren Namen, obwohl sie in dem erstarrten Schweigen, das sie umgab, nichts hörte. In diesem Augenblick wußte Igraine, daß auch er sie geliebt hatte – auf seine rauhe Art. Alles, was er getan hatte, um sie zu verletzen, war aus Liebe geschehen. Um ihretwillen hatte er sich mit Uther überwerfen, seine Ehre und seine Herzogswürde verloren. Doch sie hatte seine Liebe nur mit Haß und Ungeduld erwidert. Erst jetzt verstand Igraine, Gorlois hatte für sie empfunden, was sie jetzt für Uther empfand. Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu. Sie wollte nach ihm rufen. Aber die stille Luft bewegte sich. Er war verschwunden und hatte nie vor ihr gestanden. In diesem Augenblick durchbrach lautes Rufen im Burghof das erstarrte Schweigen.
»Macht Platz!« rief man, »macht Platz! Licht… hierher… Licht!« Vater Columba schlurfte eilig in die Halle, stieß eine Fackel ins Feuer und setzte sie in Brand. Dann hastete er zum Tor und öffnete es weit.
»Was bedeutet dieses Geschrei…?«
»Männer von Cornwall, Euer Herzog ist tot! Wir bringen den Leichnam des Herzogs. Macht Platz! Gorlois von Cornwall ist tot. Wir bringen seinen Leichnam, auf daß ihr ihn begraben könnt!« Igraine spürte, wie Uthers Arm sie stützte, sonst wäre sie gefallen.
Vater Columba erhob lauten Protest: »Nein! Das ist nicht möglich! Der Herzog kam gestern abend mit einigen seiner Männer zurück und schläft oben in seinen Gemächern…«
»Nein.« Die Stimme des Merlin klang ruhig, aber sie drang bis in die entferntesten Winkel des Burghofs. Er griff nach einem Kienspan, entzündete ihn an Vater Columbas Fackel und reichte ihn dann einem Soldaten. »Der eidbrüchige Herzog kam nicht als Lebender nach Tintagel zurück. Hier steht Eure Herrin mit Eurem obersten Herrn, Eurem Großkönig Uther Pendragon! Ihr werdet sie heute vermählen, Vater.«
Unter den Männern erhob sich Geschrei und Murren. Die Dienstleute, die herbeigerannt waren, standen wie betäubt im Saal, als die grob gezimmerte und aus Tierhäuten gefertigte Bahre hereingetragen wurde. Igraine wich vor dem bedeckten Leichnam scheu zurück. Vater Columba beugte sich vor, enthüllte kurz das Haupt des Toten, schlug ein Kreuz und wendete sich wieder ab. Sein Gesicht war von Schmerz und Zorn verzerrt.
»Das ist Zauberei, das reinste Hexenwerk!« Er spuckte aus und hielt das Holzkreuz zwischen sich und den Merlin. »Diese üble Täuschung war dein Werk, alter Zauberer.«
Igraine fiel ihm hart ins Wort: »Ich verbiete dir, so mit meinem Vater zu sprechen, Priester!«
Der Merlin hob den Arm. »Ich brauche nicht den Schutz einer Frau… auch nicht den eines Mannes, mein König!« sagte er. »Es war keine Zauberei. Ihr habt gesehen, was Ihr sehen wolltet… Euren Herrn, der nach Tintagel zurückkehrte. Allerdings ist Euer Herr nicht der eidbrüchige Gorlois, der Ehre und Lehen verwirkt hatte, sondern der wahre Großkönig und Herrscher. Er kam, um sich zu nehmen, was ihm gehört. Bleibt bei Eurer Aufgabe als Priester, Vater. Ein Toter ist zu Grabe zu tragen, und wenn das vorüber ist, eine Hochzeitsmesse für Euren König und meine Herrin zu lesen, die er als Königin gewählt hat.«
Igraine stand neben Uther, der seinen Arm um sie gelegt hatte. Sie hielt dem giftigen und verächtlichen Blick von Vater Columba stand. Sie wußte, er hätte sich auf sie gestürzt, sie als Dirne und Hexe beschimpft, wenn ihm seine Furcht vor Uther nicht den Mund verschlossen hätte. Der Priester wandte sich von ihr ab, kniete neben dem toten Herzog nieder und betete inbrünstig. Nach einem kurzen Augenblick des Zögerns kniete auch Uther. Seine blonden Haare glänzten im Licht der Fackeln. Igraine wollte an seiner Seite niederknien.
Armer Gorlois.
Er war tot. Er hatte das Schicksal des Verräters erlitten. Es war mehr als verdient. Aber er hatte sie geliebt, und er war gestorben.
Eine Hand legte sich plötzlich auf ihre Schulter und hielt sie fest. Der Merlin sah ihr kurz in die Augen und sagte sanft: »Also ist es geschehen, Grainne. Dein
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