Die Nebel von Avalon
einnehmen, die abwechselnd hier im Haus schlafen und mir dienen. Dann kannst du auch unter einem Schweigegelübde stehen und weder sprechen noch antworten dürfen. Heute abend noch bist du nichts anderes als meine Verwandte und hast noch nicht geschworen, der Göttin treu zu dienen. Heute kannst du mich noch alles fragen, was du wissen möchtest.«
Sie streckte die Hand aus, und Morgaine setzte sich neben sie auf die Bank am Feuer. Viviane drehte sich um und sagte: »Nimm mir bitte die Spange aus dem Haar. Raven hat sich schon niedergelegt, und ich möchte sie nicht mehr stören.«
Morgaine zog die geschnitzte beinerne Nadel aus dem Haar der älteren Frau. Die langen, dunklen Haare fielen ihr auf die Schulter, und Morgaine sah eine weiße Strähne über der Schläfe. Seufzend streckte Viviane ihre nackten Füße vor dem Feuer aus. »Es ist schön, wieder zu Hause zu sein… ich mußte in den letzten Jahren zu viel reisen«, sagte sie. »Ich bin nicht mehr jung genug, um daran Gefallen zu finden.«
»Ihr habt gesagt, ich darf Euch Fragen stellen«, begann Morgaine schüchtern. »Weshalb tragen manche Frauen blaue Zeichen auf der Stirn und andere nicht?«
»Der blaue Halbmond ist ein Zeichen dafür, daß sie sich dem Dienst der Göttin geweiht haben und nach ihrem Willen leben und sterben«, erwiderte Viviane. »Die Frauen, die nur das Gesicht zu gebrauchen lernen, legen diese Gelübde nicht ab.«
»Werde ich es tun?«
»Das ist deine eigene Entscheidung«, antwortete Viviane. »Die Göttin wird dir sagen, ob sie die Hand auf dich legen will. Nur die
Christen benutzen ihre Klöster gleich einer Abfallgrube, um ihre unerwünschten Töchter und Witwen loszuwerden.«
»Aber woran werde ich erkennen, ob die Göttin mich will?« Viviane lächelte im Dunkeln. »Sie wird dich mit einer Stimme rufen, die du nicht überhören kannst. Und wenn du ihren Ruf vernommen hast, gibt es keinen Platz auf dieser Welt, an dem du dich vor ihrer Stimme verbergen könntest.«
Morgaine wollte gern wissen, ob Viviane den Schwur geleistet hatte, aber sie war zu schüchtern, um danach zu fragen.
Natürlich! Sie ist die Hohepriesterin, die Herrin von Avalon…
»Ich habe das Gelübde abgelegt«, beantwortete Viviane gelassen die stumme Frage. »Aber das Zeichen ist mit der Zeit verblaßt… ich glaube, wenn du genau hinsiehst, kannst du es immer noch am Haaransatz erkennen.«
»Ja, ganz schwach… aber was bedeutet es, Herrin, der Göttin geweiht zu sein? Wer ist diese Göttin? Ich habe Vater Columba einmal gefragt, ob Gott noch einen Namen trägt. Er verneinte das und sagte, es gäbe nur einen Namen, durch den wir alle gerettet werden können… durch Jesus, den Christus, aber…«, sie schwieg verlegen, »ich weiß sehr wenig von solchen Dingen.«
»Zu wissen, daß man wenig weiß, ist der erste Schritt zur Weisheit«, bemerkte Viviane. »Denn dann mußt du nicht alles vergessen, was du zu wissen glaubst, wenn du beginnst zu lernen. Gott hat viele Namen, aber er ist immer und überall der Eine. Wenn du daher zu Maria betest, der Mutter des Jesus, betest du, ohne es zu wissen, zur Mutter der Welt in einer ihrer vielen Gestalten. Der Gott der Priester und der Große Eine der Druiden ist der Eine. Deshalb nimmt der Merlin manchmal seinen Platz unter den christlichen Ratgebern des Großkönigs ein. Er weiß, daß es nur den Einen Gott gibt, auch wenn sie es nicht wissen.«
»Meine Mutter hat erzählt, Eure Mutter war vor Euch hier Hohepriesterin…«
»Das ist wahr. Aber es war nicht nur eine Frage des Blutes. Von ihr habe ich die Gabe des Gesichts, aber ich weihte mich aus freien Stücken der Göttin. Die Göttin hat weder deine Mutter noch Morgause
gerufen. Deshalb verheiratete ich Igraine mit deinem Vater und danach mit Uther. Morgause sollte und wurde nach dem Willen des Königs vermählt. Igraines Ehe diente der Göttin. An Morgause erging kein Ruf, und die Göttin hatte keine Macht über sie.«
»Heiraten die berufenen Priesterinnen der Göttin nie?«
»Meist nicht. Sie binden sich an keinen Mann. Eine Ausnahme ist die Große Ehe. Dort vereinigen sich Priester und Priesterin gleichnishaft als Gott und Göttin. Die Kinder, die daraus entstehen, sind nicht die Kinder eines Sterblichen, sondern Kinder der Göttin. Dies ist ein Mysterium, und du wirst zur richtigen Zeit alles darüber erfahren. Ich selbst wurde so geboren und habe keinen sterblichen Vater…«
Morgaine starrte sie an und flüsterte: »Wollt Ihr damit sagen…
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