Die Nebel von Avalon
daß Eure Mutter bei einem Gott lag?«
»Nein, natürlich nicht. Nur mit einem Priester, den die Macht Gottes überschattete. Wahrscheinlich war es ein Priester, den sie nicht kannte. Denn in diesem Augenblick oder in jener Zeit kam Gott über ihn und ergriff von ihm Besitz. Und der Mann war vergessen und unbekannt.« Viviane wirkte abwesend und dachte an seltsame Dinge, die Morgaine über ihre Stirn ziehen sah. Das Feuer schien Bilder zu erschaffen… die große Gestalt eines Gehörnten… Plötzlich zitterte sie und zog ihren Umhang eng an sich. »Bist du müde, mein Kind? Du solltest jetzt schlafen…«
Aber Morgaines Neugier war wieder erwacht. »Wurdet Ihr in Avalon geboren?«
»Ja, aber ich wuchs auf der Insel der Druiden auf, weit im Norden. Als ich Frau wurde, legte die Göttin ihre Hand auf mich… das Blut der zur Priesterin Geborenen ist in mir. Mein Kind, ich glaube, es fließt auch in dir.« Vivianes Stimme schien von weit her zu kommen. Sie stand auf und blickte ins Feuer. »Ich versuche, mich daran zu erinnern, wieviele Jahre schon vergangen sind, seit ich mit der alten Frau nach Avalon gekommen bin… der Mond stand damals weiter im Süden, denn es war zur Erntezeit. Die dunklen Wintertage lagen vor uns, in denen das Jahr stirbt. Es war dann ein bitterkalter Winter, selbst in Avalon. Nachts hörten wir die Wölfe, und hoher Schnee türmte sich ringsum. Wir hungerten, denn niemand konnte sich durch die Stürme wagen. Einige der kleinen Kinder starben an der Mutterbrust, weil die Milch versiegte… Dann fror der See zu, und man brachte uns mit Schlitten das Notwendigste. Damals war ich noch Jungfrau, und meine Brüste hatten sich noch nicht geformt. Und jetzt bin ich betagt. Ich bin eine alte Frau… so viele Jahre sind vergangen, mein Kind.«
Morgaine spürte, daß die Hand Vivianes zitterte, die ihre Finger preßte. Einen Augenblick später zog die Priesterin das Mädchen an ihre Seite und legte ihr den Arm um die Hüfte. »Soviele Monde, so-viele Sommersonnenwenden sind vergangen… jetzt scheint Samhain schneller auf die Feldfeuer zu folgen, als in meiner Kindheit der jungfräuliche Mond sich füllte. Auch du wirst hier vor dem Feuer stehen und alt werden, wie ich alt geworden bin… es sei denn, die Große Mutter stellt dir andere Aufgaben… oh, Morgaine, Morgaine, meine Kleine, ich hätte dich bei
deiner
Mutter lassen sollen… «
Morgaine umarmte die Priesterin heftig. »Ich konnte dort nicht bleiben. Dort wäre ich gestorben…«
»Das wußte ich«, antwortete Viviane seufzend. »Ich glaube, die Große Mutter hat ihre Hand auch auf dich gelegt, mein Kind. Aber du hast ein behagliches Leben gegen eine harte und bittere Zeit eingetauscht, Morgaine. Und vielleicht werde ich dir ebenso grausame Aufgaben stellen müssen, wie die Große Mutter sie mir auferlegt hat. Noch denkst du nur daran zu lernen, wie man das Gesicht benutzt. Noch freust du dich, im schönen Land von Avalon zu leben. Aber es ist nicht leicht, meine Tochter, Ceridwen zu dienen. Sie ist nicht nur die Große Mutter, in deren Händen Liebe und Geburt ruhen, sie ist auch die Herrin der Dunkelheit und des Todes.« Seufzend strich sie über das weiche Haar des Mädchens. »Sie ist auch Morrigan, die Zwist und Hader bringt, sie ist der Große Rabe… oh, Morgaine, Morgaine! Ich wünschte, du wärst meine Tochter. Aber selbst dann könnte ich dich nicht schonen und müßte dich für ihre Zwecke hingeben, wie ich hingegeben wurde.« Sie senkte den Kopf und legte ihn einen Augenblick lang auf die Schulter des Mädchens. »Glaube mir, ich liebe dich, Mor
gaine. Aber die Zeit wird kommen, in der du mich ebenso haßt, wie du mich jetzt liebst…«
Morgaine fiel auf die Knie. »Niemals«, flüsterte sie, »ich bin in der Hand der Göttin… und in Eurer Hand…«
»Die Göttin gebe, daß du diese Worte nie bereust«, sagte Viviane. Sie hielt ihre Hände über das Feuer; kleine, starke Finger, vom Alter etwas angeschwollen. »Mit diesen Händen habe ich Kinder zur Welt gebracht, und durch sie habe ich das Lebensblut eines Mannes fließen sehen. Ich lieferte einst einen Mann zum Tode aus. Er hatte in meinen Armen gelegen, und ich hatte ihm geschworen, ihn zu lieben. Ich raubte deiner Mutter den Frieden, und jetzt habe ich ihr die Kinder genommen. Haßt du mich nicht, Morgaine? Fürchtest du mich nicht?«
»Ich fürchte Euch«, antwortete das Mädchen, das noch immer vor ihr kniete. Ihr dunkles, aufgewühltes Gesicht glühte im
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