Die Nebel von Avalon
gelassen, »bin ich bereits verdammt, und Ihr könnt Euch die Mühe sparen, mich zu verfluchen.«
11
Die Sonne ging gerade unter, als sie den See erreichten. Viviane auf ihrem Pony drehte den Kopf nach Morgaine, die hinter ihr ritt. Das Gesicht des Mädchens zeigte die Spuren von Erschöpfung und Hunger, aber sie hatte sich nicht beklagt. Viviane war zufrieden; sie war schnell geritten, um die Ausdauer des Kindes zu erproben. Das Leben einer Priesterin von Avalon war nicht leicht, und sie wollte feststellen, ob Morgaine Müdigkeit und Entbehrungen ohne Murren ertragen konnte. Jetzt zügelte sie ihr Tier und ließ Morgaine neben sich reiten.
»Dort liegt der See«, erklärte sie. »Es dauert nicht mehr lange, und wir werden im Schutz der Mauern sein. Dort erwarten uns ein Feuer, ein Mahl und etwas zu trinken.«
»Ich werde mich über alle drei Dinge freuen«, erwiderte Morgaine.
»Bist du müde, Morgaine?«
»Ein wenig«, antwortete das Mädchen schüchtern, »aber ich bedaure, daß die Reise zu Ende geht. Ich sehe gern etwas Neues, und bisher bin ich noch nie gereist.«
Sie brachten ihre Pferde am Wasser zum Stehen. Viviane versuchte, die vertraute Küste mit den Augen eines Fremden zu sehen… das stumpfe graue Wasser, das hohe Schilfgras, das die stillen Ufer säumte, die niedrighängenden Wolken und die Schlingpflanzen im Wasser. Es war ein Bild des Schweigens, und Viviane hörte, wie Morgaine dachte:
Es ist einsam hier, dunkel und düster.
»Wie kommen wir nach Avalon? Ich sehe keine Brücke… sicher werden wir doch nicht mit den Pferden schwimmen?« fragte Morgaine. Viviane erinnerte sich daran, daß sie einen vom Regen angeschwollenen Fluß auf diese Weise überquert hatten, und sagte schnell beruhigend: »Nein. Ich werde das Boot rufen.«
Viviane bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, um jeden unerwünschten Anblick und jedes Geräusch fernzuhalten. Dann sandte sie den stummen Ruf aus… Und wenige Augenblicke später tauchte auf der grauen Wasseroberfläche eine flache Barke auf. An einem Ende trug sie einen schwarzsilbernen Baldachin; sie glitt so ruhig dahin, als schwebe sie über dem See wie ein Wasservogel… man hörte keinen Ruderschlag, aber als sie näher kam, sah Morgaine die schweigenden Ruderer, die das Boot ohne den leisesten Laut ans Ufer brachten. Es waren halbnackte, dunkle kleine Männer mit magischen blauen Tätowierungen. Viviane sah, wie sich Morgaines Augen bei diesem Anblick weiteten, aber sie sagte nichts.
Sie nimmt das alles viel zu ruhig hin. Sie ist zu jung, um das Geheimnis unseres Tuns zu begreifen. Ich muß es ihr bewußt machen.
Schweigend machten die kleinen Männer das Boot fest und benutzten dazu ein merkwürdiges Tau aus geflochtenem Schilf. Viviane bedeutete dem Mädchen abzusitzen, und man führte die Pferde an Bord. Einer der Männer streckte die Hand aus, um Morgaine auf das Boot zu helfen. Das Mädchen erwartete beinahe, die Hand sei nicht aus Fleisch und Blut, sondern eine Erscheinung, wie das Boot; statt dessen spürte sie harte, hornige Schwielen. Als letzte nahm Viviane ihren Platz am Bug ein, und die Barke glitt langsam und lautlos auf den See hinaus.
Vor ihnen erhob sich die Insel und der Berg mit dem hohen Turm, der dem heiligen Michael geweiht war; über das schweigende Wasser drang das gedämpfte Angelusläuten der Kirchenglocken. Wie sie es gelernt hatte, bekreuzigte sich Morgaine, aber einer der kleinen Männer sah das Mädchen so scharf und mißbilligend an, daß es zusammenzuckte und die Hand schnell sinken ließ. Während das Boot durch das mannshohe Schilf glitt, sah sie die Mauern der Kirche und des Klosters. Viviane spürte die plötzliche Angst Morgaines – fuhren sie am Ende doch zur Insel der Priester, wo die Klostermauern sich um sie schließen würden?
»Fahren wir zur Kirche auf der Insel, Tante?«
»Wir kommen nicht zur Kirche«, antwortete Viviane ruhig. »Aber es stimmt. Ein gewöhnlicher Reisender, oder auch du, wenn du allein auf dem See wärst, würde Avalon niemals erreichen. Warte, halte die Augen offen und stelle keine Fragen mehr. Das ist dein Los, solange du in der Ausbildung bist.«
Zurechtgewiesen schwieg Morgaine. Aber in ihren Augen stand immer noch die Furcht. Und mit leiser Stimme sagte sie: »Es ist wie die Geschichte von der Feenbarke, die von den Inseln ablegt und in das Land der Jugend segelt…«
Viviane achtete nicht weiter auf das Mädchen. Sie stand am Bug, atmete tief und sammelte sich für die magische
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