Die Nebelkinder
hier alles mit ihren Fackeln ausleuchten!
Kaum hatte Albin die Stimme in seinem Kopf gehört, rief er: »Zu den Apfelweinfässern!« Und er zeigte zu den bauchigen Fässern am hinteren Ende des Gewölbes.
Sofort stürzte Graf Guntram mit seiner Schar - Männer mit Schwertern, Speeren und Fackeln - in die bezeichnete Richtung. Das Licht fiel auf eine kleine Gestalt, die zu den Fässern lief und sich zwischen ihnen hindurchzwängen wollte.
»Packt den Winzling!«, befahl Guntram. »Er darf nicht entwischen!«
Ein Mönch und ein Bewaffneter stürzten sich auf den zwergenhaften Mann im dunklen Rock, der schon halb zwischen den Fässern verschwunden war, und zerrten ihn wieder hervor. Trotz seiner geringen Körpergröße war der Kleinwüchsige sehr stark. Sein Gestrampel trat eins der Fässer los. Es krachte zu Boden und zersplitterte in tausend Teile. Goldgelber Apfelwein umspülte die Füße der Männer.
Erst die Spitze von Guntrams Schwert an der Kehle des Kleinen beendete dessen verzweifelte Ausbruchsversuche. Das Gesicht des Gefangenen war fast so faltig wie das von Bruder Graman. Der Mann war weiß Gott nicht mehr jung und doch nicht größer als ein
Kind, kleiner noch als Albin. In dem Gürtel, der seine dunkle Kutte zusammenhielt, steckte ein leicht gekrümmter Dolch. Sonst schien er unbewaffnet.
Ungläubig starrte Albin den Unbekannten an. Über der krausen Stirn ringelte sich erdbraunes Haar in wirren Locken.
»Das ist er nicht!«, entfuhr es Albin. »Das ist nicht der, den ich im Refektorium gesehen habe. Der Meuchler hatte rotes Haar.«
»Nicht?«, fragte Guntram mit einem prüfenden Blick, der zwischen Albin und dem Gefangenen hin und her sprang. »Nun, wenn der da nicht Graf Chlodomers Mörder ist, dann ist er sein Spießgeselle. Warum sonst sollte er sich hier verstecken und vor uns zu fliehen versuchen?«
»Wir reden immer von Mord«, sagte Graf Arbo, der italienische Gesandte. »Vielleicht hat unser Herrgott Graf Chlodomer ohne fremdes Einwirken zu sich gerufen. Wer sagt, dass es Mord war?«
Guntram zeigte auf Albin. »Der Bursche hat es behauptet.«
»Und Albin hat Recht damit«, sagte eine raue Stimme in Albins Rücken. Bruder Graman trat vor. »Ich konnte für Graf Chlodomer leider nichts mehr tun. Der Irrsinn, der ihn tanzen ließ, raubte ihm erst den Verstand und dann das Leben.«
»Irrsinn?«, wiederholte Arbo. »Ich habe noch nie gehört, dass es als Mord bezeichnet wird, wenn jemand am Veitstanz stirbt.«
»Nicht Gott verwirrte Graf Chlodomers Geist, sondern dies hier. Ich fand es in seinem Nacken.«
Graman hielt mit spitzen Fingern einen winzigen - nur knapp fingerlangen - Pfeil hoch, dessen Ende er mit einem Tuch umwickelt hatte, um es nicht mit der ungeschützten Haut zu berühren. Die Spitze schimmerte im Fackellicht blutig rot.
Überraschte Ausrufe wurden laut und Graf Guntram fragte, was das für ein Pfeil sei.
»Ein Giftpfeil, mit einem Blasrohr ausgesandt«, erklärte Graman. »Das Gift treibt dem Getroffenen erst den Verstand und dann das Leben aus.«
»Wer benutzt solch eine heimtückische Waffe?«
»Die von seinem Volk, Graf Guntram.« Graman deutete mit der Pfeilspitze auf den Gefangenen. »Die Nebelkinder. Dieser Pfeil mit dem uns unbekannten Gift ist eine ihrer fürchterlichen Waffen. Man nennt ihn auch den Elbenstrahl.«
»Also ist er doch der Mörder!«, stellte Guntram fest und bohrte seine Schwertspitze fester in die Kehle des Kleinen, bis ein Blutstropfen austrat.
»Er oder einer von seinem Volk.« Graman nickte und fuhr mit einem schweren Seufzer fort: »Ich habe geahnt, dass diese Nacht nichts Gutes bringt. Laut zu feiern, während der Nebel aus dem Mondsee steigt, heißt die Nebelkinder herauszufordern.«
»Dein Gerede von den Nebelkindern wirst du mir noch erklären, Mönch«, sagte Guntram. »Erst mal müssen wir dafür sorgen, dass uns der Meuchler nicht entwischt. Bindet den Zwerg und schließt ihn krumm. Lasst ihn keinen Augenblick unbewacht!«
Ein Trupp Bewaffneter nahm den Gefangenen in die Mitte und führte ihn ab. Er sagte nichts und wehrte sich nicht. Seine Augen waren auf Albin gerichtet und im Kopf des Findlings nahmen stumme Worte Gestalt an: Hilf mir, Albin! Ich bin unschuldig und du weißt es. Du musst mir beistehen! Wir sind vom gleichen Blut, vom gleichen Volk. Wir sind die Kinder des Nebels!
2.
Von Bewaffneten begleitet, mehr bewacht als beschützt, wurden Albin und sein Ziehvater zum Eingang des Refektoriums gebracht. Zwei Wachen
Weitere Kostenlose Bücher