Im Glanz der roten Sonne Roman
PROLOG
Im Norden von Queensland, 1893
I m Schutz der überhängenden Tischdecke kauerte der sechzehnjährige Jordan Hale unter dem Esstisch, wie er es zum letzten Mal als kleiner Junge getan hatte. Hilflos musste er mit ansehen, wie sein stolzer, unbeugsamer Vater vor seinen Augen zu einem gebrochenen Mann wurde.
Patrick Hale trank den hochprozentigen Rum direkt aus dem Krug. Immer wieder setzte er ihn ab, barg den Kopf in den Händen und stöhnte verzweifelt auf. Das Haus lag in völliger Dunkelheit, doch durch einen Spalt im Vorhang fielen Streifen silbernen Mondlichts auf die zusammengesunkene Gestalt im Sessel.
Jedes Mal, wenn Patrick Hale den Kopf hob, ließ der silbrige Schein die Falten auf seinem eingefallenen Gesicht noch tiefer erscheinen, sodass man kaum noch den Besitzer Edens erkannte, der blühenden Zuckerrohrplantage an der Cassowary-Küste. Nichts mehr an diesem verzweifelten Mann erinnerte Jordan an seinen unerschütterlichen Vater.
Erst drei Tage zuvor hatte Patrick Hale noch allen Grund gehabt, mit seiner schönen Frau, seinem prächtigen Sohn und seiner gut gehenden Plantage optimistisch in die Zukunft zu blicken. Er hätte glücklicher nicht sein können. Patrick war ein Mann, der sich alles erkämpft hatte, was er besaß, und der es deshalb auch zu schätzen wusste. Er war überzeugt gewesen, gemeinsam mit seiner Familie jeder Herausforderung gewachsen zu sein. Nie hatte er es nötig gehabt, Zuflucht im Alkohol zu suchen.
Dass sein Glück an einem einzigen Tag zerstört werden könnte, hätte Patrick Hale in seinen schlimmsten Träumen nicht erwartet. Und doch war dieser Tag gekommen. Der Tag, an dem er seine Frau tot aufgefunden hatte ...
Jordan starrte auf seinen Vater, der sich über Nacht in einen Furcht einflößenden Fremden verwandelt hatte. Tränen strömten dem Jungen über die Wangen. Er fühlte sich allein und hatte schreckliche Angst. Jordan konnte den Gedanken an eine Zukunft ohne seine Mutter kaum ertragen; und auch sein Vater hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er in Ruhe gelassen werden wollte, hatte seinen Sohn angeschrien, er solle gefälligst in seinem Zimmer bleiben. Patrick hatte so fürchterlich getobt, dass die Hausangestellten verängstigt ins Quartier der Plantagenarbeiter geflüchtet waren, außer Sichtweite des Haupthauses.
Jordan konnte kaum glauben, dass seit der Beerdigung seiner Mutter erst ein paar Stunden vergangen waren. Die Tage seit ihrem Tod und die Trauerfeier waren dem Jungen so unwirklich erschienen, dass er wider alle Vernunft immer noch hoffte, aus einem Albtraum zu erwachen. Doch der Erdhügel am Lieblingsplatz seiner Mutter unter dem Affenbrotbaum am Fluss war schreckliche Wirklichkeit.
Man hatte Jordan gesagt, seine Mutter sei am Biss einer Taipan-Schlange gestorben, doch heimliches Geflüster und verstohlenes Kopfschütteln hatten Zweifel in dem verwirrten und schmerzerfüllten Jungen geweckt.
Plötzlich glaubte Jordan Schritte auf der Veranda zu hören und lauschte angespannt. Es war schon spät – zu spät für einen zufälligen Besucher. Jordan vernahm das Quietschen der Fliegengittertür; dann hörte er schwere Schritte im Flur, die schließlich in der Tür verstummten. Aus seinem Versteck unter dem Esstisch konnte Jordan nicht sehen, wer an der Wohnzimmertür stand, doch in der plötzlichen Stille, die nur vom Quaken der Ochsenfrösche am Fluss gestört wurde,vernahm er raues Atmen und das leise Knarzen von Lederstiefeln. Zigarrengeruch stieg ihm in die Nase.
Einen Moment lauschte Jordan gespannt in die Stille und erwartete, dass sein Vater den Besucher begrüßte, doch der sprach zuerst.
»Ich bin gekommen, um dir mein Beileid auszusprechen, Patrick. Ich weiß, dass wir Reibereien hatten, aber ich bin bereit, alles zu vergessen. Wenn ich etwas für dich tun kann ...«
Jordan erkannte den irisch-amerikanischen Akzent und wusste, dass der Besucher Maximillian Courtland war. Er schien betrunken zu sein. Jordan glaubte, Unaufrichtigkeit aus Courtlands Worten herauszuhören. Oder täuschte er sich? War Max Courtland tatsächlich bereit, Patrick nach dem Tod Cathelines die Hand zu reichen und ihre fünf Jahre währende Fehde zu beenden?
Patrick Hale und Maximillian Courtland waren erbitterte Feinde. Abgesehen davon, dass Courtland aus dem Süden Irlands stammte und Patrick aus dem Norden, hatten sie grundverschiedene Ansichten über die Behandlung der kanakas , der Arbeiter von den Südseeinseln, die meist für einen
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