Die Netzhaut
betrafen sicher Patienten, die bei Mailin in Therapie waren. Jeden Tag sechs, sieben Personen, an manchen Tagen auch acht. Alle kamen mit ihren persönlichen Geschichten zu ihr. Ihnen allen musste sie zuhören, sich ihrer annehmen, sie von ihren Leiden befreien. Zu jeder vollen Stunde trat ein neuer Patient über die Schwelle, um sein Innerstes nach außen zu kehren, und Mailin öffnete sich und nahm alles in sich auf, bis ihr schwindelig wurde … Liss blätterte vor, bis sie das Ende des Jahres erreichte. Am Donnerstag, dem 11. Dezember, waren keine Termine eingetragen, doch ganz unten auf der Seite stand: »17 Uhr JH .«
Sie musste auf die Toilette und ging auf den Flur, an dessen Ende ein enger Raum mit einer Toilette und einem Waschbecken war. Nachdem sie abgeschlossen und sich hingesetzt hatte, hörte sie draußen eine Tür knarren. Ein paar Schritte, dann war es still. Wahrscheinlich war jemand ins Wartezimmer gegangen. Sie bildete sich ein, Pål Øvreby könne jeden Moment den Flur hinuntergehen, die Tür zur Toilette aufreißen und sie hier vorfinden. Sie beeilte sich und huschte zum Behandlungszimmer zurück. Die Tür war angelehnt. Ein Mann beugte sich über Mailins Schreibtisch. Er fuhr herum, als er sie hörte.
»Ich schau nur was nach«, sagte er und sah sich verwirrt um. »Ist Mailin nicht …?«
Liss blieb in der Tür stehen.
»Sie ist nicht da.«
Der Mann schien kaum älter als sie selbst zu sein. Er war groß, schlaksig und trug eine Matrosenjacke mit hochgeschlagenem Kragen. Die Brusttasche zierte ein Anker.
»Das sehe ich«, sagte er. »Dass sie nicht da ist. Wer sind Sie?«
Liss fand, dass ihn das nichts anging. Sie zog hinter sich die Tür zu.
»Haben Sie einen Termin?«, fragte sie ohne Umschweife.
Der Mann warf einen Blick aus dem Fenster. Seine schmalzigen, schwarzen Locken hingen ihm in einer Welle seitlich über die Stirn.
»Heute nicht … ist schon eine Weile her. Bin ausgestiegen. Hab versucht, einen neuen Termin auszumachen, aber ich konnte sie nicht erreichen. Deswegen bin ich kurz mal vorbei … Kommt sie später noch?«
»Ich weiß nicht, wann sie kommt«, antwortete Liss.
Ob
sie überhaupt jemals kommt. Mailin kommt nie mehr. »Ich werde aufschreiben, dass Sie da waren. Wie heißen Sie?«
Die Augen des Mannes huschten unsicher durch das Zimmer und wanderten über den Wandteppich. Dann blickte er erneut aus dem Fenster. Er hatte so viel Gel im Haar, dass Liss an einen Seevogel mit ölverklebten Federn denken musste.
»Ist nicht so wichtig«, murmelte er. »Ich melde mich später noch mal.«
Er drängte sich an ihr vorbei in Richtung Tür.
»Ich bin auch wegen Mailin gekommen«, sagte Liss.
Er blieb auf der Schwelle stehen und wippte auf den Fußsohlen.
»Warten Sie etwa auf sie?«
Sie schloss die Augen.
Was soll ich sonst tun?
»Ich muss los«, nuschelte der junge Mann und verschwand.
Liss ließ sich erneut auf den Drehstuhl sinken und bemerkte in diesem Moment, dass das Notizbuch mit den Patiententerminen, das sie auf dem Tisch hatte liegen lassen, verschwunden war. Sie machte die Schublade auf, nahm es heraus und schlug es auf. Die Seite des 11. Dezember war herausgerissen. Sie sprang auf und lief auf den Flur. Im Erdgeschoss schlug die Haustür zu.
6
G roße Schneeflocken landeten in ihren Haaren. Sie war schon vollkommen durchnässt und wollte gerade aufgeben, als Viljam die Tür öffnete. Sein verhangener Blick und die Streifen auf seiner bleichen Wange verrieten, was er getan hatte, seit sie vor ein paar Stunden aufgebrochen war.
»Wollte den nur wieder abliefern.« Sie streckte ihm den Schlüsselbund entgegen. »Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe.«
Er blinzelte ein paarmal im Nachmittagslicht.
»Macht nichts, komm rein. Noch einen Kaffee?«
Sie zog die triefend nassen Stiefeletten aus.
»Musst du nicht zur Vorlesung?«
»Wie du siehst …«
In der Küche fügte er hinzu: »Kann mich sowieso nicht konzentrieren. Kriege nachts kaum ein Auge zu.«
Liss legte die Schlüssel auf den Tisch und beschloss, ihm von dem Patienten zu erzählen, der plötzlich aufgetaucht und wieder abgehauen war.
»Er hat eine Seite aus dem Notizbuch gerissen?«, vergewisserte sich Viljam.
»Ja, und zwar genau die Seite von dem Tag, als Mailin verschwunden ist.«
»Hast du die Polizei verständigt?«
Sie hatte angerufen. Doch nach wie vor konnte sie niemand erreichen, der für den Fall zuständig war. Ihre Nachricht war notiert worden.
»Die rühren doch
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