Die Netzhaut
mehr geschaut. Da scheine ich ja was verpasst zu haben.«
Viljam trank seinen Kaffee aus und schenkte ihnen nach.
»Ich habe im Flugzeug etwas darüber gelesen«, fügte sie hinzu. »Der nimmt sich anscheinend jede Woche ein neues Tabu vor, von dem die Gesellschaft sich seiner Meinung nach befreien sollte. Cleveres Konzept.«
Nach kurzem Nachdenken sagte Viljam:
»Berger ist ein verantwortungsloser Typ, der herausgefunden hat, dass man die größte Aufmerksamkeit erzielt, wenn man eine öffentliche Schlammschlacht inszeniert.«
Liss war sich nicht sicher, ob sie bei ihm echten Zorn heraushörte.
»Am Anfang wurde er nur mit Hohn und Spott bedacht. Doch inzwischen ist er eine feste Größe geworden und gilt als unheimlich cool. Alle, die ausschließlich von ihrer Medienpräsenz leben, geben sich bei ihm die Klinke in die Hand.«
»Damit kannst du ja nicht Mailin meinen.«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich war total überrascht, als sie ihre Teilnahme an der Sendung zugesagt hat. Doch dann verstand ich, dass sie eine bestimmte Absicht damit verband. Sie hat sogar einen Essay über seine Talkshow geschrieben.«
Er nahm einen Zeitungsausschnitt von einer Korktafel: »Berger – ein Held unserer Zeit«, aus
Aftenposten
vom 1. Dezember. »Darin analysiert sie seine Methode und entlarvt ihn als beschränkten Idioten.«
Liss las die Einleitung. So gnadenlos konnte Mailin sein, wenn sie etwas bekämpfte.
»Sie hat sich so viele Jahre mit Inzest und Kindesmissbrauch beschäftigt«, fuhr Viljam fort. »Du weißt doch bestimmt, dass dies auch das Thema ihrer Habilitation ist. In der Sendung vom letzten Donnerstag hat Berger erklärt, dass er als Kind ein Verhältnis zu einem älteren Mann gehabt und ihm dies überhaupt nicht geschadet habe. Er hat sogar behauptet, dass Kinder von solch einer Beziehung profitieren könnten.«
»Hab ich in
VG
gesehen. Es hat eine Reihe aufgebrachter Leserbriefe gegeben.«
»Vor einigen Wochen hat Berger Kontakt zu Mailin aufgenommen. Sie haben sich daraufhin mehrmals getroffen. Er vertritt die Meinung, dass die bestehenden Tabus in Bezug auf Pädophilie uns an der freien Entfaltung unserer Persönlichkeit hindern. Er hat etwas Missionarisches. Dabei ist doch allen klar, dass er nur von der Sensationslüsternheit des Publikums lebt. Je größer der Skandal – und selbst die Morddrohungen gegen ihn gehören bestimmt zu seinem Konzept –, desto höher die Einschaltquote.«
Viljam stand auf und nahm etwas aus dem Eisfach. »Ich taue ein paar Brötchen auf.«
»Von so jemand würde Mailin sich nie benutzen lassen«, sagte Liss. »Dazu ist sie viel zu intelligent.«
Viljam schnitt die Tüte mit einem dünnen, säbelförmigen Messer auf.
»Ganz deiner Meinung. Sie wollte ihn benutzen.«
Er legte die Brötchen in die Mikrowelle. »Sie nimmt ihre Schweigepflicht immer sehr ernst. Doch am Tag vor der Talkshow erzählte sie mir, sie habe eine spannende Entdeckung gemacht. Ich weiß nicht, worum es ging, aber sie hatte offenbar etwas herausgefunden, das sie in der Livesendung enthüllen wollte.«
»Und Berger hat davon nichts gewusst?«, fragte Liss.
»Sie hat zu mir gesagt, sie wolle ihm eine faire Chance geben und ein weiteres Treffen mit ihm vereinbaren. Direkt vor der Sendung wollte sie noch mal mit ihm reden, damit er die Möglichkeit hat, die Sendung kurzfristig abzusagen.«
»Was er aber nicht getan hat.«
»Im Gegenteil. Er hat sich darüber lustig gemacht, dass sie angeblich kalte Füße bekommen habe. Hat den größten Quatsch erzählt, aber kein Wort über den wirklichen Grund verloren, warum sie nicht gekommen ist.«
»Den kannte Berger ja wohl nicht.«
Viljam zuckte die Schultern.
»Zuerst dachte ich auch, dass sie es sich anders überlegt hätte und Berger keine Bühne für seine unsäglichen Thesen verschaffen wollte. Aber alle, die Mailin kennen, wissen, dass sie nicht kurzfristig kneift.«
Er nahm die aufgebackenen Brötchen aus der Mikrowelle, legte sie in einen Korb und stellte Käse und Marmelade auf den Tisch.
»Nach dem Ende der Talkshow war ich sicher, dass sie in Lørenskog auftauchen würde. Wir haben dort auf sie gewartet, Tage, Ragnhild und ich. Dann haben wir herumtelefoniert. Mitten in der Nacht habe ich schließlich die Polizei angerufen, aber die wollten vorerst nichts unternehmen. Ich sollte am nächsten Tag wieder anrufen, und als ich das tat, haben sie mich gebeten, vorbeizukommen und eine Aussage zu machen.«
Liss beugte sich über den
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