Die Netzhaut
Patienten kümmern. Sag Bescheid, wenn du irgendwie Hilfe brauchst.«
Als Liss die Treppe schon halb hinaufgegangen war, fuhr Torunn fort: »Suchst du eigentlich was Bestimmtes? Die Polizei ist schon da gewesen.«
»Nein, nein«, antwortete Liss. »Ich wollte mir nur ihre Praxis ansehen.«
Im zweiten Stock schloss Liss die Tür auf und betrat einen Raum, der als Wartezimmer eingerichtet war. Ein Sofa, einige Stühle, auf einem Tisch in der Ecke ein Radio, Kunstplakate an den Wänden. Von hier gingen zwei Türen ab. Auf der einen stand »Pål Øvreby, Psychologe«. Erneut spürte sie den Drang, kehrtzumachen. Ein leichtes Ziehen im Magen, das sich in den Unterleib fortsetzte. Pål Øvreby soll nicht darüber entscheiden, was ich tue und lasse, dachte sie und wandte sich von seiner Tür ab.
Auf der anderen Tür war ein Messingschild mit Mailins Namen angebracht. Liss betrachtete den Schlüsselbund, den Viljam ihr gegeben hatte, entschied sich für den größten Schlüssel und schloss die Tür auf. Das Behandlungszimmer war nicht groß, hatte aber eine ebenso hohe Decke wie sicherlich alle Räume in diesem alten Gebäude. Auch hier blätterte bereits die Farbe ab, doch wurde der Verfall teils von einem großen Wandteppich überdeckt, auf dem sich zwei Kinder der Sonne entgegenstreckten. Der rote, dicke Teppich erzeugte beim Gehen ein weiches Gefühl unter den Füßen. Liss erkannte den Schreibtisch wieder, er war ein Erbstück ihrer Großmutter mütterlicherseits. Mit seinem dunklen, massiven Holz wirkte er viel zu groß und prächtig für dieses Büro. Darüber befanden sich drei Regale mit Büchern und Aktenordnern.
Sie setzte sich auf den Drehstuhl und beugte sich über den Tisch. Sie konnte einen Teil der Straße, die Oberleitung der Tram und eine Ampel erkennen. Irgendwo in diesem leeren Büro war Mailins Stimme. Liss schloss die Augen und stellte sie sich vor.
Was soll nur aus dir werden, Liss?
Mailin hatte sich entschieden, denjenigen zu helfen, die am hilfsbedürftigsten waren. Sie nahm sich der Menschen an, die das Schlimmste erlebt hatten, was man sich vorstellen konnte: sexuelle Gewalt, Inzest. Menschen, die aus gutem Grund in eine Lebenskrise gerieten, dachte Liss. Nicht so Leute wie ich, die alle Möglichkeiten haben und sie einfach wegwerfen. Sie ließ ihren Blick über die Aktenordner im Regal wandern. Mailin hatte ihre Rücken beschriftet, teils mit bekannten Namen: Freud, Jung, Reich. Von anderen hatte sie noch nie gehört: Igra, Bion, Ferenczi, Kohout. Mitunter hatte Liss dieselbe Neugier verspürt wie ihre Schwester. Wollte verstehen, was die Welt zusammenhält. Wie sehr uns die Sprache formt. Wie wir Erinnerungen speichern und wieder loswerden. Doch hatte sie nie Mailins Ruhe gehabt. Sie schaffte es einfach nicht, sich stundenlang in ein Buch zu vertiefen und mit nichts anderem als Wörtern zu beschäftigen. Sie brauchte Geräusche und Bilder, etwas, das in Bewegung war.
Neben dem Regal hing eine Korktafel an der Wand, an die unter anderem zwei Zeitungsausschnitte gepinnt waren. Bei dem einen handelte es sich um ein Interview mit Berger. Liss knipste die Schreibtischlampe an und las das, was Mailin unterstrichen hatte: »Nichts ödet mich mehr an als diese emanzipierten Fotzen.« Auch eine Postkarte hing dort. Sie zeigte den Blumenmarkt von Amsterdam. Liss erkannte sie wieder. Sie hatte ihr die Karte circa vor einem Jahr geschickt, und immer noch hing sie hier an der Tafel. Weiter unten entdeckte sie ein Post-it mit einer winzig kleinen Schrift. Liss musste die Lampe drehen, um sie zu entziffern. Eine gut lesbare Handschrift gehörte zu den wenigen Dingen, die Liss ihrer Schwester voraushatte. »Frag ihn nach
Death by water
«, stand da in Mailins Klaue.
Liss drehte sich zu dem aufgeräumten Schreibtisch um. Ein paar Dokumente ruhten in einer Ablage. Sie öffnete die oberste Schublade, fand einen Tacker, mehrere Stifte und eine Schachtel mit Büroklammern. Die Schublade darunter war abgeschlossen. Der kleinste Schlüssel passte. Darin lag ein kleines Buch mit weinrotem Umschlag. Sie ließ ihre Finger über den weichen, plüschartigen Stoff gleiten. »Mailin S. Bjerke« stand auf der Innenseite. Ansonsten waren alle Seiten leer. Womit wolltest du sie füllen, Mailin? Mit Notizen über deine Patienten? Deinen eigenen Gedanken? Liss steckte das Buch in ihre Umhängetasche.
Weiter hinten in der Schublade entdeckte sie einen Kalender. Zu verschiedenen Uhrzeiten waren Initialen notiert. Sie
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