Die Netzhaut
Tisch.
»Hast du ihnen von Berger und dem Gespräch erzählt, das sie mit ihm führen wollte?«
Viljam ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken. »Natürlich. Aber sie waren mehr daran interessiert, was ich in den letzten vierundzwanzig Stunden getrieben habe.«
Sie bemerkte plötzlich Angst in seinen Augen. Der erste Verdacht fällt immer auf den Partner, dachte sie. War Viljam so etwas zuzutrauen? Was war
so etwas?
Dann begriff sie, dass sie ihn nicht weniger furchtsam anblickte. Sie entschuldigte sich, schob ihren Teller mit dem dampfenden Brötchen beiseite und lief aus der Küche.
Als sie über der Toilettenschüssel hing, sah sie Mailins nackten Körper im Dunkeln vor sich.
»Sie ist tot«, murmelte sie. »Mailin ist tot.«
5
S ie folgte dem Verlauf der Sannergata. Die Autos kamen ihr entgegen und umhüllten sie mit einer Schicht aus Staub und Lärm. An der Brücke bog sie ab und ging auf dem Fußweg am Fluss entlang. Blieb an einer Bank stehen, ohne sich hinzusetzen. Es schneite leicht, auf dem vergilbten Rasen jagten zwei Jungen hinter einem Ball her. Eine Frau mit türkisfarbenem Gewand und Kopftuch rief ihnen in einer Sprache etwas zu, die Liss nicht verstand. Ihre Stimme war scharf und schneidend. Doch die Jungen reagierten nicht, sondern stürmten hinunter in Richtung Ufer.
Was hatte Viljam an sich, das bei Ragnild so ein komisches Gefühl auslöste? War es nicht einfach eine Form von Eifersucht, weil Mailin ihn sich ausgesucht hatte? Viljam ist mehr als nur verzweifelt, dachte sie. Da ist mehr als reine Angst. Oder bildete sie sich das bloß ein? Manchmal war sie ganz sicher, dass sie merkte, wenn sie belogen wurde. Oder war auch das nur Einbildung?
Als sie weiterging, hörte es auf zu schneien. Lichtkegel trieben zwischen den Wolken vorbei, als sei die Sonne auf der Flucht. Sie ging weiter in Richtung Erlöserfriedhof. Ihr Handy vibrierte. Sie sah, dass es Rikke war, und ging ran.
»Wo bist du denn, Liss? Ich habe schon seit Tagen versucht, dich zu erreichen.«
»Ich bin in Oslo.«
Bevor Rikke fragen konnte, erzählte sie von Mailin. In wenigen Worten. Am anderen Ende wurde es still.
»Ich musste einfach nach Hause fahren.«
»Erst Zako und jetzt deine Schwester. Das ist doch Wahnsinn.«
»Haben sie schon herausgefunden, woran Zako gestorben ist?«
»Die Polizei hat mich vernommen. Zako war in meiner Wohnung, bevor er nach Hause fuhr.«
Offenbar hatte sie Angst, dass Liss sie fragte, was sie bei ihr getrieben hatten.
»Ist schon gut, Rikke. Du brauchst mir nicht alles zu erzählen.«
Ein gequälter Laut am anderen Ende.
»Ich hab mich abscheulich benommen. Kann verstehen, dass du wütend auf mich bist, Liss.«
»Ich bin nicht wütend. Was hat die Polizei gesagt?«
»Sie haben mich nach allem Möglichen gefragt. Wann er weggefahren ist. Was wir genommen hatten. Ob wir Sex hatten. Danach bin ich zu ihm nach Hause gefahren. Das war echt unheimlich. Ich kann doch nichts dafür, dass er zu viel genommen hat. Sie haben auch nach dir gefragt.«
»Was hast du gesagt?«
»Was hätte ich schon sagen sollen? Du hattest ihn ja seit über einer Woche nicht gesehen. Stimmt doch?«
»Klar.«
»Wann kommst du zurück?«
»Weiß nicht.«
»Verstehe.«
»Was verstehst du?«
»Dass es dir furchtbar geht.«
Die Eingangstür war verschlossen. Sie schaute auf die Namen neben den Klingeln und entdeckte den von Mailin. Darunter ein weiterer Name, den sie kannte. Als sie den Zusammenhang begriff, machte sie auf dem Absatz kehrt, überlegte es sich anders, drehte sich wieder um und drückte auf eine Klingel, die mit dem Namen T. Gabrielsen versehen war. Über die Gegensprechanlage meldete sich eine Frauenstimme, die fragte, worum es ging. Liss nannte ihren Namen, worauf summend das Schloss aufsprang.
Im Treppenhaus roch es nach Schimmel. Die Holztäfelung war verschlissen, der Putz bröckelte von den Wänden. Im ersten Stock öffnete sich eine Tür.
»Du bist also Liss«, sagte die Frau. »Mailin hat viel von dir erzählt. Ich bin Torunn. Es ist schrecklich, dass wir uns unter diesen Umständen … du weißt, was ich meine.«
Liss entgegnete nichts. Torunn, die bestimmt Gabrielsen mit Nachnamen hieß, musste ungefähr Mitte dreißig sein. Sie reichte Liss bis zum Kinn und war ziemlich füllig. Sie hatte schulterlange rabenschwarze Haare, aber der Haaransatz verriet den ursprünglichen Grauton.
»Mailins Praxis liegt im zweiten Stock. Hast du einen Schlüssel? Ich muss mich jetzt um einen
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