Die Netzhaut
sich woanders schlafen gelegt.
Sie schlich hinaus und kam ins Wohnzimmer. Die Uhr am Fernseher zeigte Viertel nach acht. Eine Tür führte in die Küche, eine weitere auf den Flur hinaus. Eine dritte Tür war angelehnt. Sie hörte seine tiefen, gleichmäßigen Atemzüge.
Als sie die Wohnungstür öffnete, schlug ihr die Kälte entgegen. Sie trug nur einen dünnen Pullover von Mailin. Die Jacke hatte sie auf der Party vergessen. Sie ging wieder in den Flur zurück. An der Garderobe hingen eine Lederjacke von Marlboro, die Jomar gestern getragen hatte, zwei Anoraks, zwei Sakkos und ein Skianzug. Sie entschied sich für einen abgetragenen Anorak, nahm eine Kaugummipackung, ein paar Quittungen und eine Packung Kondome aus den Taschen und legte sie auf den Tisch im Eingangsbereich. Erneut öffnete sie die Tür und huschte leise die Treppe hinunter.
17
Mittwoch, 24. Dezember
T ormod Dahlstrøm hatte immer noch einen Patienten, als sie sein Haus erreichte. Es musste sich um eine Frau handeln, denn an der Garderobe vor dem Wartezimmer hing ein Pelzmantel. Liss ließ sich auf einen der Lederstühle sinken und begann in der
Vogue
zu blättern, doch sie hatte weder Lust zu lesen noch sich die Fotos anzuschauen. Aus dem Behandlungszimmer konnte sie leise Stimmen vernehmen, unterbrochen von langen Pausen. Sie nahm das Magazin des
Dagbladet
. Auf dem Cover grinste sie Berger mit seinen Mäusezähnen an. Sie schlug das Interview auf. Er erzählte von seiner Kindheit. Von seinem Vater, der Pastor der Pfingstgemeinde gewesen war. Und wie froh er darüber sei, mit dieser klaren Unterscheidung zwischen Schwarz und Weiß, zwischen dem Reich Gottes und des Teufels aufgewachsen zu sein.
Die Tür zu der Praxis glitt auf, und eine Frau mit einem dunkelgrünen Kostüm kam heraus. Sie war einige Jahre älter als Liss, hielt sich ein Taschentuch vor Mund und Nase und beachtete sie nicht. Daher dauerte es ein paar Sekunden, bis Liss die Frau erkannte, obwohl sie jahrelang die Titelseiten der Zeitschriften geziert hatte, auch in Amsterdam. Die Frau nahm ihren Mantel vom Bügel und ging langsam zum Ausgang, ohne ihn anzuziehen.
Dahlstrøm tauchte in der Türöffnung auf.
»Entschuldige, ich wusste nicht, dass du an Heiligabend arbeitest.«
»Kein Problem«, versicherte er. »Jemand anders hat abgesagt. Schön, dich zu sehen«, fügte er hinzu.
Sein Blick und sein Tonfall verrieten, dass er es ehrlich meinte. Liss versuchte, eine winzige Diskrepanz zu entdecken, etwas, das ihn der Lüge überführte, konnte aber nichts dergleichen feststellen.
»Und was die Frau angeht, die gerade gegangen ist …«, Dahlstrøm hielt sich den Zeigefinger auf die schmalen Lippen, »so rechne ich mit deiner Diskretion.«
»Aber natürlich«, entgegnete Liss. »Ich werde keinen Gedanken an all das Geld verschwenden, das ich verdienen könnte, wenn ich der Boulevardpresse einen Tipp gäbe.«
»Da gehen dir sicher Millionen durch die Lappen«, bestätigte er und wies mit der Hand auf einen bequemen Ledersessel in seinem Büro.
»Hast du noch mehr Patienten, die in ganz Europa berühmt sind?«, fragte sie.
»Kein Kommentar.«
Er lächelte, wodurch seine tiefsitzenden Augen ein wenig näher zu kommen schienen. »Da ich selbst einige Bücher geschrieben und ein paar Fernsehauftritte gehabt habe, denken manche Promis, dass ich mich gut in ihre Lage hineinversetzen kann.«
Sein Gesicht wurde wieder ernst, die Augen glitten in ihre Höhlen zurück. Von dort aus betrachteten sie die Welt und bekamen alles mit.
»Wie geht es deiner Mutter?«
Liss zuckte die Schultern.
»Ich bin seit ein paar Tagen nicht zu Hause gewesen.«
»Du wohnst bei Freunden?«
»Unterschiedlich.«
Er sah ihr sicher die nächtlichen Eskapaden an, enthielt sich aber eines Kommentars. Sie hatte einen Grund für ihren Besuch gehabt, wollte mit ihm über eine bestimmte Sache reden, doch jetzt schwieg sie.
»Mit jedem Tag schwindet unsere Hoffnung ein bisschen!«, brach es plötzlich aus ihm heraus. »Es vergeht keine Stunde, in der ich nicht Mailins Bild vor Augen habe. Mir geht es schlecht, Liss. Psychisch und physisch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie vielleicht nie mehr zu mir kommen und an diese Tür klopfen wird … Immer denke ich, dass sie es ist.«
Liss kam wieder zu sich.
»Wenn Mailin verschwindet, verschwinde ich auch«, sagte sie.
Dahlstrøm richtete sich in seinem Stuhl auf. »Verschwinden …?«
Sie starrte auf die Tischplatte, spürte das Gewicht seines
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