Die Netzhaut
Slemdalsveien hinunterstapfte. Es war kälter geworden, und der böige Wind wirbelte den Schnee auf dem Bürgersteig auf. Sie zog den Anorak, Größe XL , in den sie zweimal gepasst hätte, enger um sich und fragte sich, wann sie ihn je zurückgeben konnte. Seinem Besitzer wollte sie lieber nicht wieder begegnen. Die Bilder der Nacht tauchten vor ihr auf, doch nur schemenhaft, sodass sie ihre Gefühle nicht erneut in Bewegung setzten. Vielleicht hatte das Gespräch mit Dahlstrøm diese Wirkung auf sie. Allein der Gedanke, dass es einen Menschen gab, mit dem sie reden konnte, machte sie ruhiger.
An der Riskirche trippelte ein Mann mit Weihnachtsmannkostüm und dünnen Schuhen über die Straße. Er hatte alle Mühe, auf dem glatten Untergrund sein Gleichgewicht zu halten. Über der Schulter trug er einen Leinensack. Als er den Bürgersteig erreichte, machte er ein paar zögerliche Schritte zwischen den Eisplatten, rutschte aus und fluchte. Der Anblick erinnerte sie daran, dass Weihnachten war. Es graute ihr davor, nach Lørenskog zu fahren, doch sie hatte fast nicht geschlafen, brauchte eine Dusche und etwas zu essen … Mit ansehen zu müssen, wie ihre Mutter sich allmählich auflöste und Tage vergeblich versuchte, die Stimmung hochzuhalten.
Ein kurzes Signal ihres Handys. Sie warf einen Blick aufs Display.
Bitch!,
stand dort, nichts weiter. Sie kannte Thereses Nummer nicht, wusste aber, von wem die Nachricht stammte. Sie beschrieb, wie sie sich fühlte, als sie durch den Schnee stapfte.
Viljam sah aus, als wäre er direkt aus der Dusche gekommen. Seine dunklen, halblangen Haare waren nass und glatt nach hinten gekämmt. Sie hätte nicht unbedingt persönlich erscheinen müssen, um ihm frohe Weihnachten zu wünschen. Eine SMS hätte es auch getan.
»Ich zahle zehn Kronen für eine Dusche, saubere Kleider und eine Tasse Kaffee«, bot sie an.
Zum ersten Mal erkannte sie ein fast fröhliches Blitzen in seinen dunkelblauen Augen.
»Hat die Heilsarmee schon geschlossen?«, fragte er.
»Da fahr ich später noch hin, um mir einen Teller Suppe zu holen.«
Er hatte ihre Andeutung verstanden. Als sie frisch geduscht, mit duftenden Haaren und sauberer Unterwäsche aus Mailins Kleiderschrank nach unten kam, stand er in der Küche und rührte in einem Kochtopf. Sie schnupperte.
»Mexikanische Tomatensuppe«, gab er bekannt. »Für eine Tütensuppe gar nicht so übel.«
Er backte ein paar Brötchen auf, stellte Käse und eine Schale mit Äpfeln auf den Tisch.
»Wie gut du zu einem alten Weiblein bist«, sagte sie mit einer zitternden Altweiberstimme wie aus einem Märchenfilm.
Er lächelte.
»Und eine neue Jacke hast du auch«, entgegnete er. »Du scheinst wirklich das Gute im Menschen zum Vorschein zu bringen.«
Sie schlürfte ihre Suppe, hatte aber kein Verlangen, die Ereignisse des gestrigen Tages mit ihm zu teilen.
»Was machst du heute Abend?«, fragte sie.
Nach einer Weile antwortete er:
»Eigentlich hatten wir ein Weihnachtsessen bei Ragnhild und Tage geplant, doch jetzt weiß ich nicht.«
»Komm trotzdem mit«, bat sie, »dann muss ich nicht die ganze Zeit allein rumsitzen.«
»Mal sehen … was ist eigentlich mit dir und deiner Mutter?«
Sie war auf der Hut.
»Was soll sein?«
Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite.
»Es scheint mir so, als könntest du sie nicht ausstehen.«
»So kann man das nicht sagen. Ich habe überhaupt kein Verhältnis zu ihr, weder ein gutes noch ein schlechtes.«
»Zu deiner eigenen Mutter? Hört sich merkwürdig an. Mailin und Ragnhild scheinen sich ja ziemlich nahezustehen.«
Sie konnte sich einen Kommentar nicht verkneifen.
»Und jetzt glaubst du, dass ich die eifersüchtige kleine Schwester bin?«
»Ich glaube gar nichts. Meinetwegen brauchen wir auch nicht weiter darüber zu reden.«
»Mehr gibt es auch nicht zu sagen«, entgegnete sie. »Ragnhild ist eben so, wie sie ist. Man kann einfach nicht mit ihr zusammenleben, es sei denn, man besteht aus Gummi, so wie Tage. Sie hat zu allem eine feste Meinung, und wer andere Ansichten vertritt als sie, der ist eben dumm. Sie hat es unserem Vater unmöglich gemacht, weiter mit uns unter einem Dach zu wohnen. Sie hat ihn vertrieben.«
Viljam schaute sie eine Weile an.
»Mailin hat dazu eine andere Meinung.« Liss schob den Teller von sich weg.
»Mailin passt sich eben an, im Gegensatz zu mir.«
Sie blickte auf die Straße hinaus. Es schneite, und ein Mann mit festlich gekleideten Kindern im Schlepp eilte über die
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