Die Netzhaut
rein und gab ihr das Röhrchen. Er sah wie siebzehn aus. Sie beugte ihren Kopf und genehmigte sich die ganze Dosis auf einmal. Es brannte von der Nasenwurzel aufwärts bis unter die Schädeldecke. Eine plötzliche Freude flackerte in ihr auf. Das Bild der Hütte kam ihr in den Sinn. Im Moor zwischen den Bäumen zu liegen und in den schwarzen Himmel zu schauen …
»Ich fahre morgen zurück«, sagte sie laut.
Der junge Typ lehnte sich an sie. Er trug eine gelbe, eng anliegende Hose. Sie musste an das Gemälde eines Renaissanceprinzen denken. Allerdings hat er kein Suspensorium, dachte sie und musste lachen.
»Wo willst du hin?«, fragte er, sichtlich ermutigt.
»Never mind«, sagte sie.
»Neverland?«
Sie nickte.
»Du bist cool. Ich mag dich.« Er legte den Arm um sie und ließ einen Finger in ihren Ausschnitt gleiten. Sie schob ihn weg, tätschelte ihm lächelnd den Kopf, stand auf und wollte ins Nebenzimmer gehen, blieb jedoch auf der Schwelle stehen.
Denn in diesem Moment öffnete der Glatzkopf, der den Stoff spendiert hatte, die Wohnungstür. Draußen stand ein Mann mit schwarzen Locken und Matrosenjacke. Sie erkannte ihn sofort. Jomar tauchte neben ihm auf und sagte etwas zu ihm.
»Das geht dich nichts an!«, knurrte der Typ mit der Matrosenjacke und drückte dem Dealer einen Beutel in die Hand. Er bekam im Gegenzug einen Umschlag, überprüfte den Inhalt und verschwand wieder.
Liss rannte ins Treppenhaus, aber der Typ in der Matrosenjacke war schon eine Etage tiefer.
»Hey!«, rief sie.
Er reagierte nicht, sondern lief weiter die Stufen hinunter. Sie sprang hinter ihm her und holte ihn am Ausgang ein.
»Hey, ich rede mit dir!«, keuchte sie und fühlte sich stärker als je zuvor.
Der Kerl drehte sich mit demselben flackernden Blick zu ihr um, der ihr schon in Mailins Praxis aufgefallen war.
»Was willst du von mir?«
»Du weißt genau, was ich von dir will!«, fauchte sie.
Er versuchte, sich durch den Türspalt zu pressen, doch sie hielt ihn am Arm fest.
»Du bist damals in Mailins Praxis gewesen.«
»Na und?«
»Du wusstest, dass sie nicht da war, trotzdem hast du ihre Sachen durchsucht.«
Er starrte sie an.
»Du bist doch total stoned, du alte Schlampe!«
»Warum hast du die Seite aus ihrem Notizbuch gerissen?«
Plötzlich spürte sie eine unbändige Wut in sich aufsteigen, wollte auf ihn einprügeln, ihm an die Kehle springen.
»Hast du ein Problem?«, rief er und schleuderte sie gegen die Wand. »Hau bloß ab, verdammte Fotze!«
Seine Hand schloss sich um ihren Hals und drückte zu. Ihr wurde schwarz vor Augen. Dennoch verspürte sie eine gewisse Erleichterung. Alles konnte auch hier ein Ende nehmen, auf diese Weise … Weit entfernt hörte sie Schritte auf der Treppe, die näher kamen.
Sie sackte zusammen. Jemand verpasste ihr ein paar Ohrfeigen und wiederholte immer wieder ihren Namen.
Sie hob den Kopf und blickte in das Gesicht von Jomar Vindheim. Er sah wütend aus.
»Wer zum Teufel hat das getan?«
»Vergiss es«, hustete sie. »Es war meine Schuld.«
*
Als sie erwachte, stieg ihr ein süßlicher Geruch in die Nase, Aftershave. Sie war in der Wohnung eines Mannes und lag allein in einem breiten Bett. Sie bemerkte, dass sie angezogen war. Im Zimmer war es dunkel, doch unter der heruntergelassenen Jalousie sickerte Licht hindurch.
Die einzelnen Puzzleteile zusammenzusetzen würde ihr kein Vergnügen bereiten, doch sie musste herausfinden, was geschehen war, bevor sie in diesem Bett gelandet war. Sie musste versuchen, sich an die äußeren Umstände zu halten. Mit Catrine in der Stadt gewesen. Therese kennengelernt. Das Filetstück und der Afrikaner. Die Party in Sinsen. Der Typ, der bei Mailin in der Praxis gewesen war. Sie hatte ihn angegriffen. Jomar hatte sie auf den Rücksitz seines Autos verfrachtet. Als er vor der Ambulanz des Krankenhauses hielt, setzte sie sich auf und weigerte sich, hineinzugehen. Daraufhin hatte er sie zu sich nach Hause mitgenommen. Sie hatte keine Kraft mehr zu protestieren, erinnerte sich aber daran, dass sie während der Fahrt in einer Tour geredet hatte. Über Mailin. Über die Hütte am Morrvann. Auch über Amsterdam, glaubte sie. Hatte sie Zako erwähnt? … Als sie in seine Wohnung kamen, wurde ihr sofort schwarz vor Augen. Wie blöd konnte man eigentlich sein? Sich von einem fremden Mann abschleppen zu lassen, ohne sich unter Kontrolle zu haben … Er hatte sie nicht angerührt, das spürte sie. Hatte sie in dieses Bett gelegt und
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