Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torkil Damhaug
Vom Netzwerk:
Blicks.
    »Im übertragenen Sinne. Ich meine, ohne Mailin werde ich nicht mehr dieselbe sein wie zuvor.«
    Er schien über ihre Worte nachzudenken. Dann sagte er:
    »Ich habe das Gefühl, dass dich etwas beschäftigt, das nicht nur mit Mailin zu tun hat.«
    Ihr Magen zog sich zusammen. Nichts an ihr entging ihm. Plötzlich fühlte sie sich nackt. Dennoch konnte sie mit ihm reden. Musste nur irgendeinen Anfang finden. Ihm von der Party in Sinsen und dem Mann mit der Matrosenjacke erzählen … An irgendetwas musste sie sich erinnern, etwas, das sie dort oben in der Wohnung gesehen hatte. Doch ihre Gedanken fegten alles beiseite und wirbelten einfach weiter: alles, was nach ihrer Ankunft in Oslo geschehen war, davor die Bloemstraat, Zako tot auf dem Sofa, das Foto von Mailin … Die vier Jahre in Amsterdam waren nur eine Flucht gewesen, davor der Auszug von zu Hause, die Wohngemeinschaft in der Schweigaardsgate, davor das gemeinsame Leben mit ihrer Mutter und Tage, davor die Zeit, als Mailin noch zu Hause gewohnt hatte. Mailin, die Gute, auf die ihre Mutter so stolz war, auf der alle Hoffnungen ruhten, aus der einmal etwas werden sollte. Und davor all das, was die Erinnerung ihr verweigerte …
Woher kommst du, Liss
?
    Sie nahm sich zusammen und schob den Drang beiseite, ihm all das zu erzählen.
    »Ich spüre, dass ich nach Mailin suchen muss«, sagte sie. »Ich weiß nur nicht, wo. Also habe ich begonnen, alles Mögliche aufzuschreiben.«
    Er schaute sie interessiert an.
    »Was hast du aufgeschrieben?«
    Sie wickelte eine Haarlocke um ihren Finger.
    »Gedanken und Fragen. Was mit ihr geschehen sein könnte. Wo sie wann war, wem sie begegnet ist. Solche Dinge.«
    »Dinge, um die sich auch die Polizei kümmert«, bemerkte er.
    »Ich habe mir übrigens ein paar Fragen notiert, die ich dir stellen möchte«, sagte sie. »Etwas über ihre Kollegen, mit denen sie in der Welhavens gate zusammenarbeitet. Kennst du sie?«
    »Ich kenne Torunn Gabrielsen.«
    »Pål Øvreby nicht?«
    Dahlstrøm strich sich über den blonden Flaum, der immer noch auf seinem Schädel wuchs.
    »Ich bin ihm ein paarmal begegnet. Ein Psychologe, der sich bei seiner Behandlung ziemlich unorthodoxer Mittel bedient. Warum fragst du?«
    Liss wusste keine Antwort. Sie hatte sich wohl eine Bestätigung ihres eigenen Eindrucks erhofft.
    »Torunn Gabrielsen und Pål Øvreby sind doch ein Paar, oder nicht? Sie schien immer noch eifersüchtig zu sein, weil Pål und Mailin früher mal zusammen waren.«
    »Davon weiß ich nichts«, entgegnete Dahlstrøm. »Aber ich glaube, dass Torunn Gabrielsen einen anderen Grund hat, um auf Mailin wütend zu sein.«
    Er schien einen Augenblick nachzudenken. »Eigentlich ist es nicht meine Art, vertrauliche Dinge über Kollegen auszuplaudern, aber das ist schließlich eine besondere Situation … Ich habe mich ja geweigert zu glauben, dass irgendjemand Mailin etwas angetan haben könnte. Diese Vorstellung ist unerträglich, nicht wahr? Erst wenn alle anderen Möglichkeiten ausscheiden …«
    Liss wusste genau, was er meinte.
    »Mailin und Torunn Gabrielsen saßen gemeinsam in der Redaktion von
Stimen
. Du kennst doch die Zeitschrift?«
    Sie hatte flüchtig in ein paar Exemplaren geblättert, die Mailin ihr geschickt hatte.
    »Du weißt sicherlich auch, dass die beiden gemeinsam ein Buch veröffentlicht haben«, fuhr er fort. »Irgendwann müssen sich ihre Ansichten auseinanderentwickelt haben. Mailin hat sich seit ihrer Studienzeit mit den Opfern sexueller Übergriffe beschäftigt. Ihre gegenwärtige Studie wird sicherlich viel Beachtung finden, eine hervorragende und gründliche Arbeit.«
    »Das Bedürfnis des Kindes nach Zärtlichkeit, das mit der Leidenschaft der Erwachsenen kollidiert?«
    Dahlstrøm lehnte sich auf der anderen Seite des niedrigen Glastischs zurück.
    »Mailin ist von einem ungarischen Psychoanalytiker namens Ferenczi fasziniert. Er war einer von Freuds engsten Mitarbeitern, ist aber immer noch sehr umstritten.«
    Liss hatte mehrere Bücher von ihm in Mailins Regal gesehen.
    »Ferenczi war davon überzeugt, dass es in allen Schichten der Gesellschaft ständig zu Übergriffen auf Kinder kommt. Freud hat ja letztendlich betont, dass diese Vorstellungen ein Resultat der kindlichen Fantasie und des Unterbewusstseins sind.«
    »Aber welcher Teil von Mailins Arbeit hat die anderen bei
Stimen
denn so provoziert?«, unterbrach ihn Liss.
    »Mailin ist davon überzeugt, dass sich die Opfer sexueller Übergriffe

Weitere Kostenlose Bücher