Die Netzhaut
durch ein bestimmtes Verhalten einem erhöhten Risiko aussetzen«, antwortete Dahlstrøm. »Sie möchte zeigen, wie Menschen, sowohl Frauen als auch Männer, sich durch ihr eigenes Verhalten schützen und für ihr Wohlergehen Sorge tragen können. Sie hat genau beschrieben, was dazu führt, dass bestimmte Personen immer wieder in Situationen geraten, in denen sie zu Opfern sexueller Übergriffe werden. Die Schäden, die sie dabei erleiden, wirken in ihrem Inneren fort und tragen dazu bei, dass sich bestimmte Verhaltensmuster stets aufs Neue wiederholen. Torunn und ihre Kollegen sind offenbar der Meinung, dass dieser Blickwinkel allzu sehr diejenigen vernachlässigt, die für die Verbrechen verantwortlich sind. Manche haben Mailin sogar vorgeworfen, sexuelle Übergriffe auf Frauen legitimieren zu wollen.«
Er strich mit einem Finger über seinen Nasenrücken.
»Vor einem Monat hat Mailin im
Dagbladet
eine Antwort auf ihre Kritiker veröffentlicht. Sie kritisierte die
Stimen
-Redaktion dafür, das Verhalten der Opfer zu tabuisieren und ihnen daher die Möglichkeit zu nehmen, sich persönlich weiterzuentwickeln. Und zwar in aller Schärfe, wie es ihre Art ist, wenn sie von jemand provoziert wird.«
Dahlstrøm stand auf, ging zur Kaffeemaschine, nahm die Kanne heraus und roch daran.
»Torunn Gabrielsen arbeitet mit einer ganz anderen Methode. Bei ihr sollen sich die Opfer an jedes Detail der sexuellen Gewalttat erinnern, sie quasi noch einmal erleben. Durch diese Vergegenwärtigung soll der erlittene Schaden gewissermaßen neutralisiert werden. Doch Mailin steht dieser Methode zunehmend skeptisch gegenüber. Sie meint, dass man oft alles nur viel schlimmer macht, wenn man traumatische Erfahrungen wieder zum Leben erweckt. Das kann unter Umständen als neue erlittene Gewalt empfunden werden. Auch Torunn bezieht sich übrigens auf Ferenczi, doch Mailin interpretiert ihn auf eine andere Weise. Sie hat einen Artikel über seine Schriften verfasst, in dem sie hervorhebt, dass die Fähigkeit des Vergessens ebenso wichtig ist wie die des Erinnerns. Das ist eine ihrer Thesen im Zusammenhang mit den sieben jungen Männern, die Bestandteil ihrer Studie sind.«
»Sieben?«, fragte Liss. »Sind es nicht acht? Ich habe mir in ihrem Behandlungszimmer einen Aktenordner angesehen. Dort war von acht Männern die Rede.«
Dahlstrøm sah überrascht aus.
»Ich muss schon sagen, dass du sehr gründlich zu Werke gehst, Liss. Es stimmt, dass es ursprünglich acht Personen waren. Doch einer von ihnen kam nicht in Betracht oder ist von sich aus abgesprungen. Das war noch in der Anfangsphase, vor über zwei Jahren.«
Er füllte zwei Tassen und gab Liss eine davon. »Ich glaube, wir können es riskieren.«
»Ist das immer noch derselbe wie beim letzten Mal?«
»Schwer zu sagen«, entgegnete er. »Manchmal bin ich schon ein wenig zerstreut.«
Er wirkte kein bisschen zerstreut, ganz im Gegenteil, sie war sicher, dass er noch die kleinste Bewegung von ihr registrierte.
»Wie ist es, in Amsterdam zu leben? Das ist ja eine wunderschöne Stadt.«
Liss zögerte.
»Mailin hat erzählt, du hättest dort einen Freund.«
Hatte Mailin mit Dahlstrøm über sie geredet? Über Zako?
»Da muss sie etwas missverstanden haben. Ich habe keinen Freund.«
Zako war nie dein Freund. Er hat dich benutzt. Du hast dich benutzen lassen. Zako ist tot. Du hast ihn umgebracht, Liss Bjerke.
»Mit mir stimmt etwas nicht«, sagte sie.
Der Himmel vor dem Fenster war dunkelgrau geworden. Plötzlich kam sie sich wie ein Sack vor, der jeden Moment platzen konnte. Ich hätte nicht hierherfahren dürfen, schoss es ihr durch den Kopf.
»Tut mir leid. Da tauche ich einfach so bei dir auf und rede über meine persönlichen Probleme. Du bist ja schließlich nicht mein Therapeut.«
»Daran solltest du nicht denken, Liss.«
»Ich war nie so wie andere«, murmelte sie.
»So denken viele, vielleicht sogar die meisten von uns.«
»Ich komme von einem Ort, der weit, weit entfernt liegt. Ich habe keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin. Nur dass alles ein Missverständnis ist. Ich kenne niemand, der …«
Es klopfte an der Tür. Dahlstrøm stand auf und öffnete sie einen Spaltbreit.
»Zwei Minuten«, verkündete er und drehte sich wieder zu ihr um.
»Ich bin froh, dass wir miteinander reden können, Liss. Ich möchte, dass du irgendwann wiederkommst.«
Er fügte hinzu: »Aber dein Therapeut will ich nicht sein.«
18
E s schneite immer noch, als sie den
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