Die neue arabische Welt
weit kommen würde, damit hatte seit Jahrzehnten niemand mehr gerechnet. »Zum ersten Mal in 1000 Jahren nehmen Araber ihr Schicksal selbst in die Hand«, sagt der amerikanische Publizist Fareed Zakaria. »Seit dem 11. Jahrhundert haben Mongolen, Perser und Türken Arabien kontrolliert. Im 19. Jahrhundert teilten die Europäer diesen Weltteil untereinander auf, und im Kalten Krieg waren es die Supermächte, welche ihre bevorzugten Regime unterstützten.« Auch wenn es zuvor schon Befreiungsbewegungen gab wie im Ägypten der zwanziger oder im Algerien der sechziger Jahre – erst die arabische Erhebung beende, so Zakaria, das Zeitalter der Fremdbestimmung und die Epoche jener, die nur kraft ihrer mächtigen Schutzherren an der Macht bleiben konnten.
So unabsehbar der Ausgang dieser Erhebung für die Herrschenden wie die Beherrschten ist – für Arabien ist es das Ende einer historischen Anomalie, der Ausbruch aus einer Jahrzehnte währenden Unmündigkeit, für die Arabiens Regime verantwortlich sind. Ihre Bilanz ist vernichtend. Nicht nur die Staaten der arabischen Welt traten ja
unter schwierigen Bedingungen in das 20. Jahrhundert ein, das galt auch für Europa, Lateinamerika und viele asiatische Staaten. Doch von Schwarzafrika abgesehen, hat keine Weltregion so wenig aus ihren Möglichkeiten gemacht.
Die arabische Welt liegt heute in fast allen Parametern, mit denen Fortschritt, Entwicklung und Produktivität gemessen werden, hinter anderen Regionen zurück: Rund 20 Prozent der Araber sind Analphabeten, zwei Drittel davon sind Frauen, deren Lebenserwartung im Übrigen unter dem globalen Durchschnitt liegt. Alle 22 arabischen Staaten zusammen erzielen ein Bruttoinlandsprodukt, das niedriger ist als das von Italien.
In Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Kuwait, Ägypten, Syrien und Jordanien wurden zwischen 1986 und 2000 nur 367 Patente angemeldet; allein in Israel waren es in dieser Zeit 7652. Und jährlich werden fünfmal so viele Bücher ins Griechische übersetzt wie ins Arabische. Seit fast zehn Jahren sind diese Zahlen aus dem »Human Development Report« der Vereinten Nationen bekannt. Dass die arabischen Regierungen dagegen nichts unternommen haben, bezahlten sie in Tunesien, Ägypten und Libyen bereits mit ihrem Sturz.
Viele im Westen allerdings, die aus diesen Zahlen den Schluss zogen, die arabische Welt sei hoffnungslos an der Moderne gescheitert, stehen heute vor einer anderen Frage: Woher kommen die Hunderttausende junger Aktivisten, die mit Leidenschaft, Cleverness und Beharrlichkeit diese Revolution ins Werk gesetzt haben? Und was hat sich in den vergangenen Jahren verändert, dass eine Bewegung zustande kam, welche die scheinbar unüberwindbare Stagnation der arabischen Welt überwunden, scheinbar ewige Wahrheiten zertrümmert und scheinbar unantastbare Autokraten gestürzt hat?
Arabische Despoten: Saddam Hussein (Irak, um 1998),
Zine el-Abidine Ben Ali (Tunesien, 2009), ...
Im Winter 2001 kam ich als Korrespondent nach Kairo. Eine der ersten Wendungen, die ich im ägyptischen Dialekt aufschnappte, war »ala tuul« – ein schlichter, täglich millionenfach gebrauchter, zur örtlichen und zeitlichen Orientierung in jeder Sprache unverzichtbarer Ausdruck. »Ala tuul« bedeutet »geradeaus«, »sofort«, »unverzüglich«. Muss ich zur Nilbrücke noch einmal abbiegen? »Nein, einfach die Straße runter, ala tuul.« Den Tee erst mit der Nachspeise oder sofort? »Ala tuul, jetzt gleich.«
Mit diesem neuerworbenen Begriff flog ich Anfang 2002 zum ersten Mal nach Bagdad. Die Iraker, damals noch von Saddam Hussein regiert und auf die ägyptischen Schwarzweißfilme
im Staatsfernsehen angewiesen, lächelten, als ich ihnen mit »ala tuul« kam. Sie kannten den Ausdruck natürlich, aber sie verwendeten ihn nicht: »Wir sagen ›gubal‹ für geradeaus.«
Mit »gubal« versuchte ich es ein paar Wochen später in Beirut. Dort leben viele Schiiten, deren Prediger traditionell im Südirak studieren. »Gubal? Ah, du meinst doghri! Geradeaus!« Am Golf, erfuhr ich später in Bahrain, gebrauchen sie weder »gubal«, »ala tuul« noch »doghri«, dort sagen sie »siida«. Die Algerier verwenden das aus der französischen Besatzungszeit übriggebliebene »tout droit«, die Tunesier sagen »tawali«.
Im modernen Hocharabischen heißt die betreffende Wendung »ila l-amam«. Modernes Hocharabisch sprechen allerdings nur Sprachschüler, Fernseh- und Radiomoderatoren. In ihrer Alltagssprache haben
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