Die neue Historia des Dr. Faustus 02 - Der Traumvater
Faustus geruhsam solchem Lebenswandel nachgehen, dann aber wurde die Heilige Inquisition seines blasphemischen Treibens überdrüssig und erklärte ihn zum Feind der Christenheit. Vor allem ein einzelner Hexenjäger, Konrad von Asendorf, machte es sich zur erklärten Aufgabe, Faustus durch die Lande zu jagen. Mehrfach geriet mein Meister in die Klauen dieses Unholds und schmeckte seine Folterzangen. Ich selbst rettete ihn im Jahre 1515 zu Wittenberg aus Asendorfs Kerker, was ihn dazu brachte, mich als Schüler in seine Dienste zu nehmen. Ich blieb bis zu seinem Lebensende als Gehilfe an Faustus’ Seite.
Eben noch geschätzter Zaubermeister und Höflingsberater, galt er mit einem Mal als Ketzer und Dämon, dessen übler Ruf bis weit über die Grenzen des Heiligen Römischen Reiches drang. Sein Leben im Luxus wandelte sich zu einem Dasein auf der Flucht, ständig im Schatten der Inquisition, gejagt, bedroht, geächtet.
Dies war seine Lage, als ich mich ihm anschloß, und trotz allen Leids und aller Mühsal bin ich froh ob dieser Fügung.
Eine weitere Person gibt es, die ich Euch vorstellen will. Faustus und ich gaben ihr den Namen Angelina, denn wie sie wirklich hieß, haben wir nie erfahren.
Angelina ist ein Engel. Oder sagen wir, sie ist einem Engel so nah, wie ein Mensch es nur sein kann. Als sie ein Kind war, wurde sie gemeinsam mit einer Vielzahl anderer Jungen und Mädchen aus ihrem Elternhaus entführt und im »Zug der Erleuchteten« nach Rom gebracht. Denn nicht Räuber und Verbrecher hatten sie verschleppt, sondern die Schergen des Borgia-Papstes Alexander VI. Angelina und die übrigen – alle blauäugig und mit weißblondem Haar – wurden in den Gewölben des Vatikans vor der Welt versteckt und zu perfekten Kämpfern ausgebildet. Sie vergaßen ihre Herkunft und Muttersprache und erlernten das Lateinische. Heimtückische Lehrmeister zwangen ihnen den Glauben auf, sie seien Engel des Herrn, von ihm auserwählt, um Gerechtigkeit auf Erden zu verbreiten. Welche Gerechtigkeit dies war – nun, das sollte allein der Borgia-Papst entscheiden. Jener Alexander, gefürchtet für seine Satansmessen, Orgien und Massaker an braven Christenmenschen, hatte große Pläne für seine falschen Engel.
Aber auch ein Papst lebt nicht ewig, und Alexander raffte es schon 1503 dahin, ein Jahr nach dem Zug der Erleuchteten. Nach seinem Tod wurde die geheime Ausbildung der Borgia-Engel fortgeführt, zwölf Jahre lang, dann erhielten sie unter Papst Leo X. ihren ersten Auftrag: Sieben von ihnen sollten jene Priester zum Schweigen bringen, die dem Borgia einst die Kinder zugeführt hatten. Überall im Land gingen Kirchen in Flammen auf, wurden Geistliche getötet – angeblich von Ketzern, tatsächlich aber im Auftrag des Heiligen Stuhls. Die sieben Engel wüteten entsetzlich, bis Faustus und ich ihnen auf die Spur kamen, ihren Herrn, den bösartigen Kardinal DeAriel, besiegten und dem Treiben so ein Ende setzten. Fünf von ihnen entkamen in die Freiheit, einer starb – und die siebte, Angelina, wechselte die Seiten und schloß sich uns an.
Noch etwas solltet Ihr über sie wissen: Angelina wird nie wieder lächeln können. Beim Brandanschlag auf die Wittenberger Schloßkirche geriet sie ins Feuer. Die Flammen verzehrten ihr Gesicht und verwandelten ihr Engelshaupt in eine erstarrte Maske aus Narbengewebe. Neben ihrer Schönheit verlor sie dabei die Stimme. Seither ist Angelina zu ewigem Schweigen verdammt.
Faustus hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Rätsel um die Borgia-Engel zu lösen. Weshalb wurden sie geschaffen? Was bezweckten Papst Alexander und seine Nachfolger mit dieser geheimen Engelsheerschar?
Es dauerte lange, ehe wir die Wahrheit erfuhren. Ihr, neugieriger Leser, sollt später mehr davon hören, an einem Tag, der nicht heute ist.
Das gleiche sagte ich auch zum Tod, als er mich danach fragte.
Er war beleidigt und drohte, mich bald wieder aufzusuchen: »Dann bringe ich die Sense mit.«
Sprach’s und klapperte davon.
Manchmal ist er geradezu possierlich.
Kapitel 1
Ich sah den Gehängten schon aus der Ferne. Sein lebloser Körper schaukelte schlaff im Wind, der von Westen über das Land fegte und die weiten Wiesenhügel in ein Meer aus wogendem Grün verwandelte. Die grobe Hanfschlaufe, die man um den Hals des Mannes gelegt hatte, endete am Ast einer knorrigen Weide; die herabhängenden Peitschenzweige umschlossen die Todesszenerie wie ein orientalischer Perlenvorhang. Sie raschelten und bebten, während
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