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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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Stimme klang die Furcht mit, sich zu täuschen. Ich drehte mich um und sah niemanden, den ich kannte. Eine Frau legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: ‹Michael!› Sie berührte mein Baumwollhemd und sagte: ‹Dir ist sicher kalt, Michael.› Ich stellte meinen Koffer ab und schloss sie in die Arme. Sie hatte recht, mir war kalt.»
    Die Ahnung, in einem kalten Land angekommen zu sein, teilt der kleine Ceylonese nicht nur mit den durchgefrorenen karibischen Arbeitsmigranten, sondern – buchstäblich oder metaphorisch – mit so gut wie allen Ankömmlingen aus den ehemaligen britischen Kolonien.Drei von ihnen haben später in ihren Büchern besonders eindringlich und geradezu exemplarisch die Erinnerungen an die frostigen Zeiten ihrer Ankunft in England thematisiert. Alle drei – zwei junge Männer und eine junge Frau – kamen aus wärmeren Klimazonen, aus Afrika und aus der Karibik, und sie erinnerten sich in ihren stark autobiographischen Romanen besonders lebhaft daran, wie sie von Anfang an in London froren und fremdelten.
    Sie waren junge Leute von den Rändern des British Empire, die Söhne und Töchter aus armen ländlichen Familien in entlegenen Kolonien, und sie machten sich von der Peripherie auf den Weg ins Zentrum, getrieben von dem Traum, Schriftsteller zu werden. Sie waren Bürger des Commonwealth, und London, die Metropole des Weltreichs, war ihr Zielort. «London ist ein kaltes steinernes Labyrinth», wird einer der drei, der Südafrikaner, später ernüchtert schreiben, nachdem er «an den Southampton Docks im Nieselregen an Land gegangen» war. Auch er hockt, wie die karibischen Zuwanderer, in einem Untermietzimmer in Nord-London mit einem Gasofen und einer Gasuhr in der Ecke: «Man steckt einen Shilling hinein und bekommt für einen Shilling Gas geliefert.» Und er wird sich erinnern, wie eiskalt sich in seiner ersten Nacht in der Hauptstadt seine Füße anfühlten, «obwohl er sie mit einem Kissen zugedeckt hat. Egal: er ist in London».
    Doch als die drei jungen Ankömmlinge aus Südafrika, Rhodesien und Trinidad dann endlich durch die Straßen Londons trotten, sind sie noch lange nicht in London angekommen. Sie fühlen sich hier weder wohl noch wohlgelitten. Sie sind ängstlich und unentschlossen. London überfordert sie. «Was macht er denn in dieser großen, kalten Stadt», fragt sich der Südafrikaner, «wo man, nur um am Leben zu bleiben, sich die ganze Zeit zusammenreißen und versuchen muss, nicht abzustürzen?»
    Die drei sind unglücklich, einsam, zerquält, verschlossen und geistesabwesend. Sie fühlen sich fremd, und sie durchleiden alle Schmerzen der Entfremdung. Sie schleppen ein Handicap mit sich, das ihnen anzusehen oder mindestens zu hören ist, sobald sie den Mund aufmachen – ihre Herkunft. Sie sind sich ihrer kolonialen Ungeschliffenheit peinlich bewusst, fühlen sich als unwissende Provinzmensehen,und sie genieren sich für ihren kolonialen Akzent, der das «Queen’s English» in ihrem Mund so fatal verzerrt und die Ursache vieler Beleidigungen, Kränkungen und Beschämungen ist. Wenn er sich bei den Vokalen Mühe gibt, so hofft der Südafrikaner, dann könnte er «in einer Menschenmenge als Londoner durchgehen, vielleicht irgendwann einmal auch als Engländer».
    Jeder Londoner merkt freilich sofort, dass dies keine Engländer, sondern bloß «Colonials» sind, und London lässt sie spüren, dass sie hier, in der immer noch mächtigen Hauptstadt des Empire, bestenfalls geduldet sind, Hautfarbe hin oder her, Commonwealth hin oder her. Am schlimmsten waren die Wochenenden, erinnert sich der Südafrikaner: «Dann verschlingt ihn die Einsamkeit, die er sonst im Zaum halten kann, eine Einsamkeit, die ununterscheidbar ist vom miesen grauen, nassen Londoner Wetter oder von der unbarmherzigen Kälte der Bürgersteige. Er spürt, wie sein Gesicht steif und blöd vor Stummheit wird.»
    Dieser junge Mann, aus Kapstadt zugereist, möchte sein südafrikanisches Ich am liebsten ganz hinter sich lassen können, «wie er Südafrika selbst hinter sich gelassen hat. Südafrika war ein schlechter Start, ein Handicap. Eine durchschnittliche Familie vom Dorf, eine schlechte Schule, die Afrikaans-Sprache: allem, woraus sich sein Handicap zusammensetzt, ist er mehr oder weniger entkommen. Er ist in

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