Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
britischen Kolonialbeamten und den deutschen Kommunisten Gottfried Lessing, einen Onkel Gregor Gysis. Die beiden kleinen Kinder aus ihrer ersten Ehe hatte sie mit 24 Jahren ohne sonderliche Skrupel verlassen.
Als sie 1949 fast ohne Geld in London ankommt, ein Jahr nach der «Generation Windrush», ist sie von ihrem zweiten Ehemann Gottfried gerade frisch geschieden und nur in Begleitung des kleinen Sohnes aus dieser Ehe. Sie ist hartnäckig entschlossen, fortan vom Schreiben zu leben. Sie tritt der Kommunistischen Partei bei und beginnt, ihre stürmische Kolonialjugend in Rhodesien, dem heutigen Zimbabwe, literarisch auszuschöpfen. Tatsächlich hat Doris Lessing die Erlebnisse ihrer ersten dreiÃig Jahre ihr ganzes Autorenleben lang immer wieder aufs Neue auf- und umgeschrieben.
Diese ersten dreiÃig Lebensjahre waren ein atemloses Taumeln durch ein Chaos ständig umgestürzter Lebens- und Liebespläne â ein Rohstoff von solch unerschöpflicher Ãppigkeit, Dichte, Fülle und Buntheit, dass die Schriftstellerin Doris Lessing lebenslang davon zehrenkonnte. Das erste Ergebnis ist eine fünfteilige Romanserie mit dem Obertitel «Kinder der Gewalt». Diese Pentalogie ist über lange Strecken ein weiblicher Bildungs- und Entwicklungsroman, weitet sich aber schlieÃlich zum Epochen-Fresko und Gesellschaftspanorama und endet â mit dem prophetisch-halluzinatorischen Roman «Die viertorige Stadt» â als apokalyptische Untergangsvision, in der nicht nur England zugrunde geht.
Ihrer literarischen Doppelgängerin in diesem Romanzyklus gibt Doris Lessing einen sprechenden Namen. Martha Quest nennt sie ihr fiktives Alter Ego, eine Frau auf der Suche, die genau wie ihre Autorin geprägt ist von quälender Unruhe, panischem Fluchtbedürfnis und nervöser Abneigung gegen immer die Stelle, an der sie sich gerade befindet. Wie Doris Lessing selbst durcheilt auch ihre Romanheldin im Schnelldurchlauf binnen kürzester Zeit mehrere Frauenleben, zwei Zufallsehen und drei Mutterschaften. Sie probiert Lebensläufe an wie Kleider. Sie dreht sich kurz und prüfend in ihnen und legt sie dann rasch ab wie Kostüme, die ihr nicht stehen. Die unterschiedlichen Lebensrollen, die sie im Eiltempo durchprobiert, würden für ein halbes Dutzend weiblicher Lebensläufe reichen.
In wütender Dauerrebellion bekämpft Martha/Doris ihre Eltern, ehe sie mit vierzehn Jahren von zu Hause flieht, sich in Salisbury mit diversen Jobs wie Kindermädchen, Haushälterin, Telefonistin oder Schreibkraft durchschlägt und sich mit neunzehn in ihre erste Ehe stürzt. Sie kostet kurz vom privilegierten Status als junge Gattin eines Kolonialbeamten, rundum bedient von schwarzen Domestiken, leidet aber bald unter dem «vagen, aber hartnäckigen Gefühl, dass mit diesem System etwas grundsätzlich nicht stimmt».
So beginnt ihre Politisierung, die sie in eine Gruppe radikaler Linker und Emigranten führt, die es auf der Flucht vor dem Krieg in Europa nach Salisbury verschlagen hat. Diese kommunistische Zelle (deren Chefideologen sie bald heiraten wird) öffnet ihr die Augen über Rassentrennung und Kolonialismus. Hier liegen für Martha/Doris weitere Lebensentwürfe zur Probe bereit: die Politiker-Gattin, die Genossin, die Organisatorin, die Funktionärin, die Agitatorin. Lessing selbst beschreibt ihre kommunistische Phase in einem Interview viel später als«betriebsame, amateurhafte Herumpolitisiererei â eine richtige kommunistische Gruppe waren wir für, ich würde mal sagen, achtzehn Monate, nicht viel länger». In «Sturmzeichen», dem dritten Band des Zyklus «Kinder der Gewalt», analysiert Doris Lessing peinlich genau und auch komisch, wie sich die Gruppendynamik, die Intrigen und Kämpfe zwischen Aufbau und Zerfall einer kommunistischen Partei in einer Provinzstadt in der letzten Phase der britischen Kolonialherrschaft in Afrika wirklich abspielten.
Hinter all den hektischen Rollenwechseln und Fluchtbewegungen der jungen Doris Lessing steckt eine tiefe Wunde, die nicht verheilen will. Mit einer Mischung aus vorwurfsvoller Wut und Schuldgefühlen hadert sie mit ihrer Herkunft, einem Makel, den sie abschütteln will und doch nicht kann. Die Scham verschwindet nicht. Dass ihre Eltern in ihrem Kolonialleben so schmählich scheiterten, hat die Tochter ihnen nie verziehen. Namentlich mit ihrer übermächtigen
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