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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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der großen Welt. Erinnerungen an Südafrika kann er nicht gebrauchen. Südafrika ist wie ein toter Albatros um seinen Hals. Südafrika ist eine Wunde in seinem Inneren.»
    Ihre Herkunft ist für die drei jungen künftigen Schriftsteller mehr als ein Hemmnis; sie ist eine Wunde in ihrem Inneren, die zu bluten nicht aufhört. Diese Wunde bereitet ihnen Schmerz, und dieser Herkunftsschmerz zeitigt die widersprüchlichsten Gefühle: Sehnsucht, Scham, Selbsthass, Widerwillen und Trauer. Alle drei wollen schreiben, damit die Wunde sich schließen kann. Doch zugleich wissen sie: Das Schreiben über die Herkunft (und worüber sonst sollten sie schreiben können?) würde die Wunde im Inneren ständig neu aufreißen. So leben diese jungen Leute wie im Dämmerzustand, in einem Zwischenreich zwischen Herkunft und Ankunft, nicht mehr dort und nochnicht hier. Es ist ein provisorisches Leben im permanenten Zwischenraum – in einem auf Dauer gestellten Transitorium zwischen Aufbruch und Ankunft. Sie wissen: Das Rätsel der Ankunft ist nicht zu lösen, solange die Herkunft unerlöst ist.
    Eine Art Krampf hielt diesen drei jungen Leuten aus Rhodesien, Trinidad und Südafrika – eben von den Rändern der kolonialen Welt – in London Seele und Gemüt umklammert: Sie schämten sich ihrer kolonialen Herkunft, sie fühlten sich unterlegen und litten darunter. Dieser Krampf konnte erst weichen, als er beschreibbar geworden war, als die Schande der Herkunft durch die Schrift getilgt wurde und aufgehoben war in und durch Literatur. Erst im Stolz der ersten Publikationen konnte der Makel offenbart und damit bereinigt und aus der Welt geschafft werden.
    Alle drei schrieben schließlich Bücher über Ursprünge und Folgen des Kolonialismus, gesehen durch familiäre Leitfiguren, die eigene Mutter in Rhodesien, den eigenen Vater in Trinidad, den eigenen Vorfahren, einen burischen Kolonisator des 18. Jahrhunderts. Die Bücher hießen «Afrikanische Tragödie», «Ein Haus für Mr. Biswas» und «The Narrative of Jacobus Coetzee». Vor allem aber schrieben die drei Ankömmlinge Romane über ihre ersten Londoner Jahre, und diesen Büchern sind die schmerzlichen autobiographischen Erfahrungen auf jeder Seite abzulesen. Diese Bücher tragen Titel wie «Kinder der Gewalt», «Das goldene Notizbuch», «Die jungen Jahre» oder «Das Rätsel der Ankunft». Indem die drei Zuwanderer über ihre Herkunft schrieben, indem sie die Fremde und die Krisen ihres eigenen Fremd-Seins zu ihrem Thema machten, wurde der verschwiegene Makel der Herkunft zur Sprache gebracht – und damit endlich getilgt. Im Laufe der Jahre wurden die jungen Fremden zu literarischen Wortführern ihres Zeitalters, sie gelangten zu höchsten Ehren, wurden zum Teil geadelt, ihr Werk wurde kanonisiert, alle drei sind heute Literaturnobelpreisträger: Doris Lessing aus Rhodesien, Sir Vidia S. Naipaul aus Trinidad und J. M. Coetzee aus Südafrika.
    Sie waren die Wegbereiter. Gemeinsam mit Sam Selvon gehören sie zu den Pionieren, die als Erste das Thema der Epoche setzten: das Thema «Fremde». In Anziehung und Abstoßung waren sie alle auf einenOrt fixiert und von diesem Ort kulturell geprägt: London in der Endphase der Selbstauflösung des britischen Imperiums. Alle drei kamen als junge Niemande mit nichts in der Hand in die Metropole; alle drei durchlebten in England existenz-erschütternde Metamorphosen; das Rätsel der Ankunft offenbarte sich als Verwandlungskrise; und letztlich gingen sie gestärkt, bereichert und verwandelt aus diesen Identitätskrisen hervor.
    Sie konnten – anders, als dies heutzutage möglich ist – noch klar erkennen, wo die Peripherie und wo das Zentrum war, und sie waren im Zentrum angekommen. Das fremde, kalte England hatte sie durchgerüttelt, doch es hatte sie auch mit neuen Identitäten ausgestattet. Sie stehen am Übergang zur postkolonialen Epoche, in ihren Büchern wird das Zeitalter des Kolonialismus ins Postkoloniale umcodiert, in ihnen wird die koloniale Welt in der Stunde ihres Verschwindens auf völlig neue Art lesbar.
    Die Erste von den dreien, die London erreichte, war Doris Lessing. Sie war eine zweimal geschiedene Frau von dreißig Jahren, eine entlaufene rhodesische Farmerstochter. In Salisbury, dem heutigen Harare, hatte sie zwei Ehemänner zurückgelassen, einen

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