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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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Nach jeder Schulübung, jeder Klassenarbeit, jedem Test wird die Mutter nach seiner Zensur fragen: «Ist das das Beste, was du erreichen konntest?» Der Sohn wird die Frage immer guten Gewissens bejahen können. Schließlich hat er in Kenia die britische Kolonialerziehung für Afrikaner als Bestschüler durchlaufen.
    NgÅ©gÄ©s atemberaubende Karriere auf drei Kontinenten lässt sich erst ermessen, wenn man seine Herkunft und seinen Bildungswegbetrachtet. Dass er in Kenia, das damals noch eine britische Kolonie war, überhaupt Bildung erwerben konnte – das verdankt er nicht nur seiner Begabung und seiner Zielstrebigkeit, sondern vor allem auch seiner Mutter Wanjiku. NgÅ©gÄ©s Vater hatte in dieser Angelegenheit nichts mitzureden: «Es war der Traum meiner Mutter und damit allein ihre Sache», schreibt NgÅ©gÄ© in seinen Kindheitserinnerungen «Träume in Zeiten des Krieges».
    NgÅ©gÄ© entstammt einer traditionellen GÄ©kÅ©yÅ©-Bauernfamilie in der Gegend von Limuru, einem Dorf am Rande des Rift Valley, nicht weit von Nairobi. Als sein Vater Thiong’o geboren wurde, vermutlich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, da regierte noch Königin Victoria über ihr
East Africa Protectorate
, und Nairobi war nichts weiter als ein Sammellager für den Eisenbahnbau. Erst ab 1920 wurde das Land als Kolonie und Protektorat Kenia bezeichnet; inzwischen ist es bereits seit einem halben Jahrhundert eine Ex-Kolonie und ein unabhängiger Staat, mit Nairobi, einer Millionen-Metropole, als Hauptstadt.
    Als NgÅ©gÄ© geboren wurde, war Kenia ethnisch, sozial und ökonomisch dreigeteilt zwischen Weißen, Afrikanern und Indern. Die Ethnie der GÄ©kÅ©yÅ©, die im Zentrum Kenias die fruchtbarsten Böden besaß, wurde enteignet und zwangsumgesiedelt, um Platz zu machen für weiße Siedler, oder als Kleinpächter diesen zu Frondiensten verpflichtet. Die
White Highlands
waren nun den Europäern vorbehalten. Wie großartig es sich für Weiße im Abendglanz des Empire auf den Plantagen der
Highlands
leben ließ, umsorgt von dienstfertigen und allzeit verfügbaren Afrikanern, die auf den Tee- und Kaffeefeldern rackerten, das kann man bei der dänischen Baroness Karen Blixen ebenso nachlesen wie bei der amerikanischen Weltreisenden Martha Gellhorn.
    Außerhalb der Plantagenwelt der Weißen gab es die Reservate für Afrikaner. Den Indern war der Besitz von Land überhaupt verboten: Sie wurden Kaufleute in den größeren und kleinen Städten entlang der neuen Eisenbahnlinie. Wie im Zeitraffer durchlebte NgÅ©gÄ© demnach die Kolonialzeit von der Hochblüte des British Empire viktorianischer Prägung über den blutigen Befreiungskampf in den Jahrender Mau-Mau-Aufstände bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1963. Er erlebte danach auch alle Fehlentwicklungen, an denen das postkoloniale Kenia bis heute krankt und die NgÅ©gÄ© schließlich für immer außer Landes treiben sollten.
    NgÅ©gÄ©s Vater Thiong’o hatte vier Frauen und 24 Kinder. NgÅ©gÄ©, der 1938 geboren wurde, war das fünfte Kind der dritten Frau seines Vaters, der zu seiner Zeit als der an Rindern und Ziegen reichste Mann von Limuru galt, bis eine Seuche (oder war es der magische Schadzauber eines bösen Neiders?) seine Herden vernichtete und ihn damit ruinierte. Thiong’os Gehöft bestand aus fünf Hütten und einem riesigen Rinderkral, in den der Patriarch allabendlich seine Herden trieb und der mit einem Holzzaun und einer Hecke aus Dornenbüschen gesichert war. Die Haupthütte, die
Thingira
, bewohnte Thiong’o allein, die übrigen vier Hütten waren das Terrain der vier Ehefrauen und ihrer Kinder. Zu jedem Frauenhaushalt gehörten – außer einer Feuerstelle und den Schlafplätzen – auch Vorratskammern, ein Kornspeicher und ein Pferch für Ziegen und Schafe. Die Frauen brachten Thiong’o abwechselnd das Essen in seine Behausung, und der Patriarch achtete darauf, keine Frau zu bevorzugen. Seine
Thingira
stand in genau gleicher Entfernung zu allen vier Frauenhütten.
    Â«Ich wurde in eine funktionierende Gemeinschaft aus Ehefrauen, erwachsenen Brüdern und Schwestern, Kindern meines Alters und eines Patriarchen hineingeboren», schreibt NgÅ©gÄ© wa Thiong’o in seinen Kindheitserinnerungen. Immer wieder betont er das gute Einvernehmen und die Harmonie unter den vier Ehefrauen, die

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