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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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afrikanisches Kind, die Gĩkũyũ-Fibel lesen zu können. Doch Ngũgĩs Mutter und sein älterer Halbbruder Wallace Mwangi, genannt «Good Wallace», sorgten dafür, dass der Junge rasch an eine andere Grundschule mit Englisch als Unterrichtssprache wechselte. Erst viel später begriff Ngũgĩ, dass er damit eine historische Trennlinie überschritten hatte und dass dieser Schritt auch über sein weiteres Schicksal entschied. Diesem Schritt widmet er in seinen Erinnerungen einen ausführlichen Exkurs über das Schulsystem in Kenia zur Zeit der britischen Kolonialherrschaft.
    Die meisten britischen Missionsschulen waren darauf ausgerichtet, afrikanische Arbeitskräfte für die weiße Siedlergemeinschaft heranzuziehen. Sie beschränkten ihre Lehrpläne auf Zimmerei, Landwirtschaft und Basiskenntnisse im Lesen und Schreiben. Die Beherrschung des Englischen wurde als unnötig, zumindest als nachrangig betrachtet– schließlich ging es der Regierung und den Missionaren darum, Afrikaner von höherer Bildung fernzuhalten und ihnen bloß die erforderlichen Fertigkeiten für Domestiken der britischen Kolonialherren zu vermitteln.
    Daneben existierten aber auch einige unabhängige, afrikanisch geführte Schulen, deren Lehrpläne auf der englischen Sprache als Schlüssel zur Modernität aufbauten, ohne zugleich kolonialistische Indoktrination zu betreiben. Hier ging es darum, den Afrikanern Wissen zu vermitteln, und nicht, ihnen den Eurozentrismus einzubläuen und sie Unterwürfigkeit und Unterstützung des Kolonialstaats zu lehren.
    Mit seinem Wechsel auf eine solche unabhängige Grundschule wurden auch die Weichen für NgÅ©gÄ©s weiteres Leben gestellt – ohne dass von da weg alles glattgelaufen wäre. Im Gegenteil. Die private Katastrophe war der wirtschaftliche Ruin des Vaters, der auch das Familiengefüge und das stolze Selbstgefühl des Patriarchen zerstörte. Nach schweren Konflikten trennte sich NgÅ©gÄ©s Mutter von ihrem Ehemann und kehrte in ihr Vaterhaus zurück. Darauf verstieß Thiong’o auch ihre Kinder und untersagte ihnen den Verbleib in der Großfamilie; NgÅ©gÄ© lebte fortan im Haus seines mütterlichen Großvaters: «Aus einer polygamen Gemeinschaft ist die Kleinfamilie einer Alleinerziehenden geworden.»
    Auch politisch waren NgÅ©gÄ©s Schuljahre von Unruhe und Brüchen geprägt. Schließlich fällt seine Schulzeit in die 1950er Jahre, also in die Zeit der Mau-Mau-Aufstände. Die Briten verhängten den Ausnahmezustand über Kenia und gingen mit aller Härte gegen die Aufständischen vor. So wurde beispielsweise, wie NgÅ©gÄ© erzählt, das
Kenya Teachers’ College
in ein Konzentrationslager verwandelt, in dem man die Unterstützer des Widerstands gegen den Kolonialismus erhängte.
    Der Lehrplan an seiner Schule wurde rekolonialisiert, der Lehrkörper ausgetauscht. Auf dem Schulgelände durfte nur noch Englisch gesprochen werden, afrikanische Sprachen waren verpönt. Wer GÄ©kÅ©yÅ© sprach, riskierte körperliche Züchtigung. «Wir lernten, dass Weiße den Mount Kenya und viele unserer Seen, einschließlich des Viktoria-Sees, entdeckt hatten. In der alten Schule war Kenia Land der Schwarzen. In der neuen wurden Kenia und Südafrika so dargestellt,als wären sie vor der Ankunft der Weißen kaum besiedelt gewesen, sodass die Weißen die unbewohnten Gebiete in Besitz nahmen. Die Weißen brachten Medizin, Fortschritt, Frieden. Ein europäischer Schulinspektor machte die Runde, um Botmäßigkeit sicherzustellen.»
    Zwischen 1952 und 1960 galt in Kenia der Kriegszustand. Erst 1963 entließen die Briten ihre Kolonie in die Unabhängigkeit. NgÅ©gÄ©s älterer Bruder Good Wallace floh im Kugelhagel der Kolonialpolizei in die Wälder, ging in die Berge und schloss sich der Befreiungsbewegung an. Die Familie lebte in ständiger Angst, deswegen gleichfalls verfolgt zu werden und den britischen Truppen in die Hände zu fallen, die die Mau-Mau-Guerillas erbarmungslos jagten. Selbst als Geächteter in den Wäldern ließ der ältere dem jüngeren Bruder dringliche Botschaften zukommen, unter keinen Umständen seine Ausbildung abzubrechen («Wie unsere Mutter immer sagt: Gib dein Bestes. Wissen ist unser Licht»). Erst nachdem sich Good Wallace vom Guerillakampf losgesagt und den Briten ergeben hatte, wurde er

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