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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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untereinander ein empfindliches, aber doch belastbares Machtgefüge ausgehandelt hatten. Sie bildeten eine verschworene Gemeinschaft, «der Außenwelt, ihrem Ehemann und sogar ihren Kindern gegenüber». Auf diese Weise hatte jedes Kind vier Mütter: «Jede von ihnen durfte jedes Kind zurechtweisen und bestrafen; andererseits bekamen wir auch bei jeder etwas zu essen.»
    Die Großfamilie war ein Hort des Geschichtenerzählens. Am Abend saßen die Frauen und die Kinder rund um die Feuerstelle, die älteren Geschwister brachten ihre Freunde mit, und dann wurden reihum Geschichten zum Besten gegeben. Dass Erinnerungen mündlichweitergegeben werden, das brannte sich dem Jungen am heimischen Erzählfeuer tief ein. Die älteste von NgÅ©gÄ©s vier Müttern war die beste Geschichtenerzählerin. Stets waren Rätsel, Lieder, Sprichwörter, Märchen und Volksweisheiten in ihre Erzählungen verwoben. Am Feuer konnten auch die politischen Heldengeschichten von vergeblichen Aufständen gegen die Kolonialherren wieder aufgewärmt werden. Und mit jedem Aufwärmen wurden Rebellen immer mehr zu Legenden verklärt und die harten politischen Fakten immer weiter ins Mythische entrückt. Auf diese Weise konnte ein Freiheitskämpfer wie Jomo Kenyatta zum mythischen Helden der GÄ©kÅ©yÅ© idealisiert werden.
    Die Frauen arbeiteten auf den Feldern und zogen Gemüse, Kartoffeln und Früchte, die sie auf dem Markt verkauften (NgÅ©gÄ©s Mutter bezahlte davon seine Schulgebühren und seine Uniform); die jüngeren Kinder halfen dem Vater als Viehhirten, die älteren und NgÅ©gÄ©s erwachsene Halbbrüder und Halbschwestern arbeiteten auf den Teeplantagen der Europäer und auf den neuen Chrysanthemenfeldern eines afrikanischen Grundherrn, Lord Reverend Stanley Kahahu. Kahahu war Absolvent einer weißen Missionsschule und einer der ersten christlichen Konvertiten. Er gehörte zu den Profiteuren der klassischen englischen Kolonialstrategie des «Divide & Rule». Er war als presbyterianischer Prediger ausgebildet und trug stets den weißen Kragen seines Berufsstandes. Er war der Erste, der Chrysanthemen anbaute und einen Hain mit Pflaumenbäumen anlegte, der Erste, der mit Pflügen ackerte, und der Erste, der ein Auto und später auch einen Lastwagen besaß. «Lord Reverend Stanley Kahahu verkörperte Modernität durch und durch», schreibt NgÅ©gÄ© rückblickend.
    Der Vergleich zwischen der Lebensweise seines eigenen Vaters Thiong’o und der des reichen Nachbarn Kahahu brachte den Jungen zum Nachdenken: «Das Anwesen der Kahahus mit seinen Autos, dem sonntäglichen Kirchgang, wirtschaftlicher Macht und Modernität war ein krasser Gegensatz zu unserem, einem Reservat schwerer Arbeit, Armut und Tradition.» NgÅ©gÄ© musste erkennen, dass Mündlichkeit und Tradition gegen Schriftlichkeit und Modernität offenbar verloren hatten. Sein Vater hielt sich vom Christentum fern, pflegte aber auchtraditionelle afrikanische Rituale und Praktiken allenfalls noch in Restbeständen, etwa, wenn er am Morgen sein Gesicht zum Mount Kenya richtete, ein kleines Trankopfer brachte und einige Worte sprach, die mit einer lauten Bitte um Frieden und den Segen für den gesamten Haushalt endeten. Tradition, so verstand NgÅ©gÄ© seine erste politische Lektion, hatte an Verbindlichkeit eingebüßt und war inzwischen mit Rückständigkeit gleichzusetzen, während Modernität und Fortschritt an die Aneignung all dessen gekoppelt waren, was sich von den britischen Kolonialherren lernen ließ. Es sollte etliche Jahre dauern, ehe NgÅ©gÄ© wa Thiong’o die Triftigkeit und Gültigkeit seiner jugendlichen Einsichten in Zweifel zu ziehen begann.
    Zunächst war es ihm nur darum zu tun, mit den Kindern von Lord Reverend Kahahu gleichzuziehen. Er besuchte nun die gleiche Schule wie sie und trug die gleiche Schuluniform wie sie. Na ja, nicht ganz die gleiche Schuluniform. Die Mutter hatte ihm beim Inder ein Hemd und Khaki-Shorts gekauft, die einfachsten Sachen, ohne Hosenträger oder Achselklappen wie bei den Kahahu-Kindern. Für Unterwäsche hatte es nicht gereicht. Und natürlich lief NgÅ©gÄ© die ganze Kindheit hindurch barfuß. Erst bei seinem Übertritt in die Oberschule wurde das erste Paar Schuhe seines Lebens erforderlich und sogleich zu einem ernsten Problem.
    Für die Grundschule reichte es für ein

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