Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
hinaus mit den übrigen Teilen des Türkischen Reiches bis nach Stambul verbindet». Sechzig Jahre später fügt SaÅ¡a StaniÅ¡iÄ nun dieser Stadtchronik AndriÄs ein neues Kapitel an. Auch bei ihm bildet die Brücke die Erzählklammer.
Mit dem Tod von Opa Slavko mehren sich die bedrohlichen Zeichen dafür, dass der Religions- und Stammesfrieden in Stadt und Land wohl nicht mehr lange halten wird. Auf dem Schulhof fallen die ersten Beschimpfungen gegen Muslime. Plötzlich gibt es ein Dazugehören und ein Nicht-Dazugehören und im Falle unklarer Zugehörigkeit die Frage: «Was bist du eigentlich?» («Ich bin ein Gemisch. Ich bin ein Halbhalb. Ich bin Jugoslawe â ich zerfalle also.») Bei einem Familiengelage erleben die ausgelassen Feiernden einen Schock, als unverhofft ein politischer Nationalmythos aus dem groÃserbischen Giftschrank in die gute Stimmung platzt. Plötzlich unterbricht ein junger Mann, der bald aufseiten serbischer Milizen über die bosnischen Muslime in ViÅ¡egrad herfallen wird, den Familiengesang mit seinem Wutgebrüll: «So eine Musik in meinem Dorf! So ein türkischer Zigeunerdreck! Sind wir hier in Istanbul? Sind wir Menschen oder Zigeuner? Unsere Könige und Helden sollt ihr besingen, unsere Schlachten und den serbischen GroÃstaat!»
Als die Feindseligkeiten ernstlich ausbrechen und serbische Soldaten und Paramilitärs die Stadt ViÅ¡egrad erst belagern und dann einnehmen, hat Aleksandar nichts mehr auÃer seiner Phantasie, um sich vor den Schrecklichkeiten zu schützen, die sich vor seinen Augen ereignen. Seine Beschreibung der Belagerung ist ein verzweifelter Versuch, das Ungeheuerliche in vertraute Bilder zu übersetzen, um es sich so begreiflich zu machen. SaÅ¡a StaniÅ¡iÄ kreiert hier aus der Eroberung von ViÅ¡egrad einen neuen Mythos â aus Kinderperspektive: «Bräutigame mit Bart, oben Tarnjacke, unten Trainingshose fuhren vorbei. Geländewagen hupten, Lastwagen hupten. Eine Armee von bärtigen Bräutigamen fuhr vorbei, sie schossen den Himmel an und feierten, die Stadt zur Braut genommen zu haben. Auf den Wagendächern und den Motorhauben schaukelten Bräutigame im Takt der StraÃenlöcher, die sie selbst ausgeschachtet hatten, neun Tage lang, jeden Tag. Hinten hingen aus den Anhängern Beine in Grün und Braun, baumelten wie Zierde. Die ersten Panzer ziepten die StraÃe hinauf. Ihre Ketten hinterlieÃen weiÃe Ritzen im Asphalt und machten, wo sie über Bürgersteige fuhren, Beton zu Kies. Sogar die Brücke bog sich unter den Zahnrädern, ihre Bögen werden bersten. Ich hörte, wie die stählernen HundertfüÃler die StraÃe zu Staub raspelten. Die Brücke hielt.»
Sofort beginnen die Plünderungen. Der titelgebende Soldat hat jetzt seinen Auftritt. Er schleift ein Grammofon hinter sich her, das er einem bosnischen Nachbarn in Aleksandars Wohnhaus weggenommen hat; wie eine Gans zum Schlachten hat er es am Trichter gepackt â und kann es doch nicht in Gang setzen. Er kann es nur demolieren, indem er die Kalaschnikow in den Lauf des Trichters treibt. Aleksandar, der das sieht, sucht den Beistand der Phantasie: Wäre er «Fähigkeitenzauberer», denkt er, so würde er ein Lied aus dem Grammofon zaubern, das den Soldaten besänftigen müsste. Doch die Magie wirkt nicht mehr.
«Die Menschen zerfielen in Verfolgte und Verfolger», schreibt Ivo AndriÄ in seiner ViÅ¡egrad-Chronik. «Jenes hungrige Tier, das im Menschen lebt und sich nicht zeigen darf, solange nicht die Dämme der guten Sitten und Gesetze entfernt werden, war jetzt befreit. Wie oft in der menschlichen Geschichte waren Gewalt und Raub, ja, auch Mord,stillschweigend zugelassen, unter der Bedingung, dass sie im Namen höherer Interessen, unter festgelegten Losungen und gegen eine begrenzte Zahl von Menschen eines bestimmten Namens und einer bestimmten Ãberzeugung verübt wurden.» Da überrascht es nicht, dass in den ethnischen Wirren das Denkmal des katholischen Dichters im Park an der Drina-Brücke zuallererst zerstört wird â ob es Serben waren oder Muslime, die Ivo AndriÄ vom Sockel rissen, bleibt unklar.
Aleksandars Familie gelingt mit knapper Not die Flucht. Ehe die Massaker an den Bosniern beginnen und die Einwohner von ViÅ¡egrad zu Hunderten von der Brücke in die Tiefe gestoÃen und im Wasser erschossen werden,
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