Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Scharfschützen schieÃen von Hochhäusern und von den Anhöhen wahllos auf Passanten und Autos in den StraÃen der Stadt, am gefährlichsten sind die StraÃenkreuzungen. «Die Menschen werden abgeschossen wie Papierblumen», schreibt Karahasan.
Im Februar 1993 wird von den Eingeschlossenen ein 800 Meter langer geheimer Tunnel unter der Flughafenpiste fertiggestellt. Er ist der einzige Flucht- und Versorgungsweg; über ihn können Lebensmittel, Medikamente und Waffen in den bosnischen Stadtteil gelangen, Menschen aus der Stadt evakuiert werden und Kämpfer wie Helfer â allerdings auch Schmuggler und Schwarzhändler â hereinkommen. Karahasan vergleicht den Tunnel, «durch den Sarajevo sich an den Rest der Welt klammerte», mit einer Nabelschnur: «Sarajevo hängt durch seinen Tunnel an der Welt wie ein Fötus durch die Nabelschnur an der Mutter.»
Karahasan führt hier erstmals zwei neu entstandene Mythen in die Literatur ein â die heroische Sarajevo-Legende vom rettenden Tunnel und den Opfermythos von der Allee der Heckenschützen. Ganz abgesehen davon, dass der Roman als Ganzes den Heldenmythos der Stadt erzählt, die 1425 Tage lang belagert und unentwegt beschossen wurde, länger als je eine Stadt im 20. Jahrhundert. Das zentrale Thema Karahasans sind jedoch die Namen und deren schicksalhafte Bedeutung. Namen verbürgen Identität. Im Bürgerkrieg können Namen lebensgefährlich sein, denn sie verraten die ethnische Zugehörigkeit der Menschen und entscheiden damit über Leben und Tod. Es gibt «unvernünftige Namen», so wird der Ich-Erzähler, ein bosnischer Professor, belehrt, der sich entschieden hat, in der eingeschlossenen Stadt auszuharren; es gibt aber auch «einwandfrei akzeptable Namen». Als völliginakzeptabel gelten «Muslime und diese Multinationalen, die nicht wissen, zu wem sie gehören und wo ihr Platz ist». Muslime und Multinationale sind «unklare und unzugehörige Menschen, die für normale Leute unannehmbar sind».
Wer aus der Stadt flüchten will, braucht einen Taufschein, sei er echt oder gefälscht. Der Name darauf muss christlich und darf nicht muslimisch klingen. Katholische Klosterbrüder sind bereit, Muslime auf dem Papier zu christianisieren und ihnen falsche Taufscheine mit «einwandfrei akzeptablen Namen» auszustellen, damit sie sich mit falschen Pässen aus der Stadt retten können; doch als der Dokumentenfälscher geschnappt wird, ist dieser Rettungsweg verbaut. Ein ethnisch gemischtes Liebespaar wird für immer auseinandergerissen, denn der muslimische Verlobte kann nun nicht zusammen mit seiner christlichen Braut aus der belagerten Stadt fliehen. Er wird zu den bosnischen Truppen eingezogen werden, die die Stadt verteidigen, und wird dabei einen Arm einbüÃen. Auch seine Braut verliert er für immer: Sie wandert nach Neuseeland aus.
Karahasans Titelheldin, die Lehrerin Serafina, ist die tragische Hauptfigur des Romans. Obwohl es in der Stadt an allem mangelt, hält sie inmitten der täglichen Raketen- und Granatenangriffe an ihrer kultivierten bürgerlichen Lebensart fest: Kultur als Widerstand gegen die Barbarei des Krieges. Anders als ihre Tochter, der die Flucht gelingt, will Serafina Sarajevo nicht im Stich lassen. Sie ist überzeugt, dass es «Dinge gibt, die wichtiger sind als Gesundheit und Ãberleben». Sie hilft, die tägliche Versorgung ihres Stadtviertels zu organisieren. Und als dies getan ist, stellt sie sich auf die StraÃenkreuzung, ins Fadenkreuz jedes denkbaren Heckenschützen, der abdrücken möchte. Sie ist eine, die sich weigert, weiterhin geduckt um ihr Leben zu rennen â eben weil es Dinge gibt, die wichtiger sind als das Ãberleben. Ein Akt der Selbstachtung? des stolzen Protests? der Herausforderung? der Verachtung der Gefahr? des Lebensüberdrusses? des provozierten Selbstmords?
Dževad Karahasan friert das Bild der Frau auf der Kreuzung in seiner ganzen Vieldeutigkeit wie ein Standfoto ein, auch wenn er ihr letztlich ein anderes Ende zugedacht hat. Dass sich die verwegeneTodesverachtung einer alternden Lehrerin im belagerten Sarajevo auf andere Weise Ausdruck verschafft als die eines pickeligen, pubertierenden Schuljungen im belagerten Tuzla, wird nicht überraschen. Man kann es auch nachlesen â bei Ismet PrciÄ, der in Tuzla aufwuchs, dort drei Belagerungsjahre durchlebte
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