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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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durchquert die Ärztin Natalia auf ihren Fahrten durch das balkanische Hinterland dieses böse Märchen-Universum im Geiste kühler Sachlichkeit. Mit der prüfenden Haltung der Wissenschaftlerin, die jedem Phänomen auf den Grund gehen möchte, nähert sie sich den mal raunenden, mal verstockten Dörflern, die ihr Gespenstergeschichten von wandelnden Toten und lebendig Begrabenen oder Märchen über Tierbräutigame und in Bären verwandelte Bärenjäger auftischen. Während die Ärztin Waisenkinder gegen Keuchhusten impfen möchte, muss sie sich mit abergläubischen Ritualen rund um einen falsch begrabenen Leichnam herumschlagen, der dem Dorf angeblich die Krankheiten schickt und nur in einem symbolischen neuen Begräbnis an einem Kreuzweg Ruhe finden kann. Der Balkan erweist sich als eine Region der Ungleichzeitigkeiten: In jedem Moment können die unterschiedlichsten Vergangenheiten emportauchen, mit ihren Phantasmagorien der Gegenwart in die Quere kommen und sie in ein Schlachtfeld verwandeln, auf dem um die Geltungskraft mythischer Erinnerungen gekämpft wird.
    Auch Opa Slavko ist ein begnadeter Märchenerzähler, ganz ähnlich der Großvatergestalt bei Téa Obreht. Auch Opa Slavko hat ein Enkelkind, das seine Erzählungen als Lebenselixier aufsaugt. Auch Opa Slavko ist ein ideeller Gesamtjugoslawe von echtem altem Tito-Schrot und -Korn, ein gläubiger alter Kommunist mit dem richtigen Gespür für Symbolik: Sein Leben geht mit dem Zerfall seiner Partei und seines Staates zu Ende. Ein Herzinfarkt tötet ihn am 25. August 1991 vor dem Fernseher – noch dazu in genau den 9,86 Sekunden, in denen er sieht, wie Carl Lewis in Tokio den Weltrekord über 100 Meter aufstellt. Sogar Opa Slavkos Tod hat das Zeug zum Mythos. Mit seinem Tod nimmt der Zerfall Jugoslawiens seinen Anfang.
    Noch am Morgen seines Todes schnitzt er aus einem Ast einen Zauberstab für seinen Enkel, krönt den Kleinen mit einem spitzen Zauberhut mit gelben und blauen Sternen und beauftragt ihn mit einer Lebensmission: «Die wertvollste Gabe ist die Erfindung, der größte Reichtum die Fantasie. Merk dir das, Aleksandar, merk dir das und denk dir die Welt schöner aus.»
    Mit dem Roman «Wie der Soldat das Grammofon repariert» kommt SaÅ¡a StaniÅ¡ić nun dem Auftrag von Opa Slavko nach. Er denkt sich die Welt schöner aus. Er hat ein «Als-alles-gut-war»-Buch geschrieben, in dem er sein Kindheits-Jugoslawien wiederauferstehen lässt, als ein Kinderparadies mit Großvater. In dem Buch wird das ungeteilte Jugoslawien wieder lebendig, mit allen Gerüchen, Geräuschen, Farben und Aromen, mit allen Sprüchen, Spielen, Ritualen, Bubenstreichen, Familienfesten und gargantuesken Gastereien – mit Hackfleisch, Pflaumen, Spanferkel, Sliwowitz und Zigeunerkapellen, wie die Balkan-Folklore sie seit jeher im Standardrepertoire hat. Es ist ein Sehnsuchts-, Freuden- und Trauerbuch geworden, ein Buch der Wehmut und des Verlusts.
    Im deutschen Exil, in dem er zum Zeitpunkt der Niederschrift des Romans seit vierzehn Jahren lebt, arbeitet SaÅ¡a StaniÅ¡ić an der Wiederverzauberung der ersten vierzehn Jahre seines Lebens, die er in seiner Heimatstadt ViÅ¡egrad an der Drina verbracht hat, die einst der Grenzfluss zwischen Bosnien und Serbien war. In der Drina hat er schwimmen gelernt und seine ersten Fische gefangen. Von der Plattform aufdem Mittelpfeiler der berühmten und in die Literatur eingegangenen osmanischen Brücke über die Drina hat er gemeinsam mit Opa Slavko das Stadtpanorama in den Blick genommen und es sich für immer eingeprägt.
    Die grüne Drina ist hier ein Märchenfluss, und als solcher ist sie ein lebender, fühlender und leidender Organismus. Und selbstverständlich hat sie eine Stimme und kann sprechen. «Ich kenne keinen Schlaf, kann niemanden retten und nichts verhindern», klagt die Drina dem Ich-Erzähler Aleksandar. Unzählige Kriege habe sie durchgemacht, einer scheußlicher als der andere. So viele Leichen habe sie tragen müssen, so viele gesprengte Brücken ruhen für immer auf ihrem Grund.
    Im Jahr 1945 hat der Nobelpreisträger Ivo Andrić die Brücke über die Drina in die Weltliteratur eingeschrieben, indem er sie zur Hauptperson seiner Chronik aus ViÅ¡egrad machte und sie feierte als die «unentbehrliche Spange auf dem Wege, der Bosnien mit Serbien und darüber

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