Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
vielleicht sogar schon im Flug, und die grüne Drina sich rot färbt, verlassen Aleksandar, sein serbischer Vater und seine bosnische Mutter die Stadt und retten sich nach Deutschland.
Als er zehn Jahre später zum ersten Mal wieder Bosnien besucht, muss er begreifen, dass die Kindereinfalt nicht mehr hilft. Seine wunderbaren Privatmythen, in deren Magie er sich so lange und so tröstlich eingesponnen hat, erweisen sich als machtlos gegen die neue Realität. Die Tatsachen â die unzähligen Toten und Vertriebenen, die zerstörten Städte und verwüsteten Dörfer, die unbehelligt herumspazierenden Massenmörder und Kriegsverbrecher â sind stärker als alle Phantasie. Zudem haben sich die Grenzen verschoben: Aus ViÅ¡egrad ist eine serbische Stadt geworden.
Aleksandar will seine Erinnerung mit dem Jetzt vergleichen. Er hat Listen gemacht. Er sucht seine verlorene Jugendliebe, und er sucht Bekannte von früher, doch er trifft nur verstörte, vom Krieg gezeichnete, kaputte Menschen: den legendären FuÃballer Kiko, jetzt mit Beinstumpf und auf Krücken; seinen alten Musikprofessor, ein Gespenst aus einer anderen Zeit, der sich an nichts mehr erinnert und niemanden erkennt; seinen serbischen Schulfreund, der allen Lebensmut verloren hat und voller Verbitterung ruft: «Guck dich bitte mal um! Kennst du hier irgendjemanden? Du kennst ja noch nicht mal mich! Du bist ein Fremder, Aleksandar! Sei froh!»
Einen gibt es, der noch da ist wie immer schon. Der gemütliche Polizist Pokor in seiner blauen Uniform hat noch seinen alten Posten und versieht wie früher seinen Dienst in Višegrad. Allerdings ist er zwischendurchzum Kriegsverbrecher und Massenmörder geworden, hat als Anführer einer Freischärlerhorde Massaker begangen und trägt einen Spitznamen: Herr Pokolj (Herr Gemetzel). Die ganze Stadt weià es und nimmt es achselzuckend hin, und Aleksandar wagt es aus Angst vor ihm nicht, sich zu empören.
Auf seiner Spurensuche und seinen Kreuz- und Querfahrten durch das untergegangene Land sammelt Aleksandar horrende Geschichten aus dem Krieg. Und keine ist phantastischer und irrwitziger als die Geschichte, die ihm ein gewisser Dino SafiroviÄ erzählt: wie er und die bosnischen Verteidiger der Stadt auf den Anhöhen oberhalb des eingekesselten Sarajevo in einer Gefechtspause zwischen den Schützengräben gegen die Serben FuÃball spielten, wie er den entscheidenden Schuss mit dem Gesicht gehalten hat, seitdem aber keine Verschlusslaute mehr bilden kann.
Die Beschreibung dieses FuÃballspiels zwischen den verfeindeten Mannschaften, in dem es letztlich um Leben und Tod geht, ist der literarische Höhepunkt des Romans. Hier gelingt StaniÅ¡iÄ das Kunststück, die Geschichte ständig aufs Waghalsigste zwischen spielerischer Leichtigkeit und blutigem Ernst, Lust am Sport und mörderischem Hass, Freude an der Ballgeschicklichkeit und tödlicher Bedrohung kippen zu lassen und doch in der Balance zu halten. Können die Fairness-Regeln des Sports das Morden mindestens zeitweise auÃer Kraft setzen? Ist sportliche Fairness womöglich stärker als der ethnische Blutrausch zwischen Serben und Muslimen? Kann es einen Moment der GroÃmut und Menschlichkeit geben inmitten ausgelebter Barbarei?
SaÅ¡a StaniÅ¡iÄ gönnt den serbischen und bosnischen Kämpfern eine humane Verschnaufpause auf dem improvisierten FuÃballfeld zwischen den Schützengräben. Es ist ein utopischer Augenblick eines friedlichen Wettkampfs, in dem der Ball stärker ist als die Gewehrkugeln â und er geht rasch vorbei. Gleichwohl hat er das Zeug zu einem neuen nationalen Mythos. Wie es indessen um das menschliche Miteinander unten im umzingelten Sarajevo bestellt ist, wo kein FuÃballspiel die Kriegsparteien wenigstens zeitweise mit dem Töten innehalten lässt, das kann man in Dževad Karahasans Roman «Sara und Serafina» nachlesen.
Der Roman spielt in der zweiten Jahreshälfte 1992 bis Ende Februar 1993 und führt mitten hinein in die abgeriegelte und unter Dauerbeschuss liegende Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina. Die Stadt ist seit Anfang April 1992 von serbischen Verbänden eingekesselt und wird von den umliegenden Bergen mit Artillerie und Mörsergranaten beschossen. Die Zufahrten sind blockiert, Sarajevo ist von der AuÃenwelt abgeschnitten; Wasser wird knapp, es gibt keine Heizung und nur noch sporadisch Strom.
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