Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Schattendasein, als leere, nicht gelebte Zeit, vorkommen lassen, reflektieren Hemon und PrciÄ mit Nachdruck auch ihr Emigrantenleben, gestützt auf ihre eigenen harschen Erfahrungen als Neuankömmlinge in den USA, mit dünner Brieftasche, aber dickem Akzent. Das Exil hat sie abgehärtet, ihr Blick auf Amerika ist unverwandt. Sie fühlen sich mit ihren Erinnerungen an die balkanische Katastrophe und ihrer Trauer darüber vereinsamt inmitten der Ahnungslosigkeit und Gleichgültigkeit der Amerikaner, die für die blutigen Verstrickungen ineinem rückständigen Winkel des alten Europa kaum Interesse, geschweige denn Verständnis aufbringen können.
Das muss diese Autoren besonders schmerzen, denn ihnen stehen die Selbsttröstungskünste der beiden jüngeren und des älteren Kollegen nicht zu Gebote. Weder wollen sie den Schrecken durch private Mythisierungen beschwichtigen wie Obreht und StaniÅ¡iÄ, noch ist es ihre Sache, ihn durch historische Spiegelungen geistesgeschichtlich einzukapseln wie bei Karahasan. Hemons Sarajevo und PrciÄs Tuzla sind keine unschuldigen Kinderparadiese, und auch keine kulturhistorischen Inbilder imaginärer Geistesräume wie bei Karahasan â sie sind kaputt gemachte Kinderheimat, Wüstungen der Seele, Ruinenstätten, die von einem politischen Desaster künden.
Dževad Karahasan hat Sarajevo im Geiste nie verlassen. Aleksandar Hemon und Ismet PrciÄ ringen noch mit ihrem Schmerz über Doppel-Identität und unklare Zugehörigkeit und kämpfen darum, ihre neue amerikanische Existenz mit ihren Erinnerungen an Sarajevo und an Tuzla in einen Einklang zu bringen, mit dem sich leben lässt. Für Téa Obreht und SaÅ¡a StaniÅ¡iÄ hingegen sind die Kindheitsmythen noch so leuchtkräftig und übermächtig präsent, dass ihr Exilleben in den USA oder in Deutschland dagegen verblasst.
In ihrem Roman-Erstling «Die Tigerfrau», für den sie 2011 auf Anhieb mit dem renommierten
Orange Prize
ausgezeichnet wurde, erwähnt Téa Obreht das Thema Emigration mit keinem Wort, auch wenn sie sich in Interviews selbst «eine gelungene amerikanische Integration» bescheinigt. Ebenso wenig nennt sie die Weltregion beim Namen, die den Schauplatz ihres Romans bildet. Die Länder bleiben namenlos, die Orte tragen Namen, die auf keiner Landkarte zu finden sind; gleichwohl sind diese unbezeichneten Handlungsräume zweifelsfrei als der umkämpfte und ethnisch zerrissene Balkan zu erkennen. Die «Hauptstadt», in der die Familie der Ich-Erzählerin des Romans wohnt, bleibt ungenannt und lässt sich dennoch als die serbische Hauptstadt Belgrad identifizieren; und mit der Stadt «Sarobor» mit ihrer berühmten Brücke ist gewiss das bosnische Mostar gemeint.
Durch diese vom Krieg noch schwer gezeichnete Region mit ihren neuen, bizarren Grenzverläufen bewegt sich die Romanheldin Nataliaauf den Spuren ihres gerade verstorbenen GroÃvaters, eines begnadeten Erzählers phantastischer Geschichten. Namentlich zwei dieser Geschichten â die über die Frau des Tigers und die über den Mann, der nicht sterben kann â haben das Leben des GroÃvaters bestimmt, hallen in der Phantasie der Enkelin nach und timbrieren auch den zauberischen Erzählkosmos dieses Romans. «Diese beiden Geschichten flieÃen wie geheime Ströme durch all die anderen Erzählungen seines Lebens», sagt die Enkelin Natalia, die sich nach GroÃvaters Tod auf die Spurensuche nach seinem Leben begibt und auch den Wahrheitsgehalt dieser beiden fabelhaften Geschichten zu ergründen sucht.
Natalia ist Ãrztin, der GroÃvater war Arzt und ein angesehener Medizinprofessor in der Hauptstadt, eine noble Gestalt, immun gegen alle nationalistischen Infektionen. Die Enkelin ist in humanitärer Mission unterwegs: Sie bringt dringend benötigten Impfstoff in ein Waisenhaus an der Grenze, für Schutzimpfungen von «Kindern, die von unseren eigenen Soldaten zu Waisen gemacht worden waren». Sie versteht ihren Einsatz als Beitrag zum Wiederaufbau des geschlagenen und ruinierten Landes, auch über die neuen Grenzen hinweg. Was sie die längste Zeit nicht weiÃ: Auch ihr GroÃvater, obgleich schwer krebskrank und geschwächt, war noch kurz zuvor in derselben Gegend unterwegs, zur medizinischen Versorgung junger Männer, die auf Landminen getreten waren, die ihnen die Beine zerfetzten.
Der
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