Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
GroÃvater war schon vor dem Krieg vom neuen Regime seines Landes schikaniert und kaltgestellt worden. Die Regierung untersagte ihm, als Arzt zu praktizieren, weil sie ihn «der Loyalität gegenüber der alten Föderation verdächtigte». In der Tat: der Bundesstaat des «Marschalls» war seine politische Heimat. Im erzwungenen Ruhestand konnte der GroÃvater, der überdies wegen seiner Herkunft aus einer nördlichen Provinz und seiner Ehe mit einer muslimischen Frau aus «Sarobor» (Mostar) nicht den ethnischen Reinheitsgeboten der neuen Regierung entsprach, nur noch heimlich Patienten betreuen, und er versorgte sie wie bisher â unabhängig von ihrer Herkunft.
Genauso entschlossen ist sein Einsatz für die Kriegsopfer, denn Landminen halten sich nicht an Feindbilder, sie sind ethnisch blind, sie töten wahllos. In einer Atmosphäre zunehmender ethnischer Spaltungenund nationalistischer Aufhetzung bewahrt der GroÃvater seine Klarsicht und Integrität; er setzt dem Aberglauben, dem Fremdenhass, den nationalen Opfermythen und politischen Phantasmen seiner Landsleute seine Humanität und aufgeklärte Rationalität entgegen. Darin ist er ein leuchtendes Vorbild für seine Enkeltochter, die ihm von klein auf nachzueifern sucht.
GroÃvater und Enkelin sind Welt-Ausbesserer. Sie versuchen in aller Stille, das Zerbrochene und Zerfallene zu flicken, die Stücke wieder zusammenzufügen und die Frakturen zu reparieren, die der Krieg hinterlassen hat. Sie glauben an einen Balkan jenseits der politischen, ethnischen und religiösen Feindschaften, in dem Mitmenschlichkeit die alten Hasslinien überwinden und auslöschen kann. Und bald erkennt man, wie Téa Obreht die Gestalt des GroÃvaters verstanden wissen möchte: «Er war sein Leben lang Teil des Ganzen gewesen â mehr noch, er verkörperte jenes Ganze. Er war hier geboren, hatte dort studiert. Sein Name verwies auf die eine, sein Akzent auf die andere Region des Landes.» Der GroÃvater ist das Inbild des ideellen Gesamtjugoslawen vor dem Zerfall. Die Autorin hat ihr Buch ihrem 2006 verstorbenen GroÃvater Å tefan Obreht gewidmet. Ihm huldigt der Roman auf so schmerzliche wie innige Weise.
Der Tod des GroÃvaters setzt bei der Enkelin einen Erinnerungsprozess in Gang. In ihrer frühesten Erinnerung nimmt der GroÃvater die Vierjährige mit zu den Tigern im Zoo. In seiner Brusttasche steckt immer «Das Dschungelbuch» mit dem Blattgoldeinband und den alten gelben Seiten. Im Zoo liest der GroÃvater der Kleinen gerne Passagen aus dem Buch vor. AuÃerdem sagt er: «Ich kannte einmal ein Mädchen, das liebte die Tiger so sehr, dass es beinahe selbst zu einem wurde.» Und damit öffnet sich das Tor zum mythischen Jugoslawien, zu dessen Märchen, Legenden und Schreckensgeschichten, die Téa Obreht mit betörender Fabulierfreude vor dem Leser ausbreitet. Die Autorin ist eine begnadete Sagensammlerin und Märchenspinnerin. GroÃvaters Erzählungen nehmen bei ihr leuchtende Gestalt an.
Die Frau des Tigers ist eine junge Taubstumme in einem hinterwäldlerischen Balkan-Dorf, die sich mit einem aus dem Zoo entlaufenen Tiger anfreundet und ihn durchfüttert. Sie ist eine AuÃenseiterin,nicht nur wegen ihres Gebrechens, sondern auch als die einzige Muslima in einem stockorthodoxen Dorf. Als sie schwanger wird, dichten ihr die furchtsamen und abergläubischen Dörfler prompt ein Liebesverhältnis zu dem Tiger an und verfolgen sie erbarmungslos, was schlieÃlich mit ihrer Ermordung endet.
Neben dieser geheimnisvollen Liebesgeschichte vom Tiger und seiner Frau spielt in GroÃvaters Imaginarium auch die Begegnung mit dem Tod eine wichtige Rolle. In entscheidenden Situationen seines Lebens, so erzählt er der Enkelin, will er einem seltsamen Todesboten begegnet sein: dem Mann, der nicht sterben kann.
Alle diese abergläubischen Geschichten voll von irrationalen Ãngsten und magischem Abwehrzauber, in denen Tierbräutigame, vertauschte Bräute, Dämonen, Gespenster und Wiedergänger ihr Unwesen treiben, werden allmählich erkennbar als vormoderne Quellen, aus denen sich die von Kriegen zerrissene Moderne auf dem Balkan immer noch speist. Der Hass auf alles, das anders und fremd ist, und die archaische Angst vor dem Unbekannten, das von auÃen kommt, wirken fort bis heute.
In der Gegenwartsebene des Romans, in der Nachkriegszeit,
Weitere Kostenlose Bücher