Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
und 1996 mit neunzehn dem Bosnienkrieg entkommen konnte, weil er einen Onkel in Kalifornien hatte, der ihn in die USA einlud. PrciÄ studierte an der
University of California
in Irvine Theater und Kreatives Schreiben und unterrichtet heute Theaterwissenschaft am
Clark College
in Portland, Oregon, wo er mit seiner amerikanischen Frau lebt. «Shards», sein erster Roman, stach 2011 der amerikanischen Kritik sofort ins Auge und heimste viel Aufmerksamkeit und Lob ein. Zu Recht.
«Scherben» ist nicht nur der Titel des Romans, sondern auch seine Form und sein Thema. Es geht um mannigfachen Zerfall: Eine Welt, ein Land, ein Leben, ein Mensch zerfallen, gehen in Trümmer. Der Roman besteht aus lauter Erzählfragmenten und Textbruchstücken â Scherben â, aus denen der Protagonist und Ich-Erzähler, der wie sein Autor auch Ismet PrciÄ heiÃt, sein zerscherbtes Leben neu zusammenzusetzen sucht. Er hat sich aus dem Bosnienkrieg in die USA retten können, aber der Krieg hat ihn traumatisiert, verfolgt ihn und lässt ihn auch in Kalifornien nicht los. Er hat sich gerettet, aber er ist zerrüttet. Der College-Student leidet an den Nachwirkungen der Jahre unter dem Granatenhagel im belagerten Tuzla: Albträume, Schlafstörungen, Panikattacken, Schreckhaftigkeit bei jeder Fehlzündung eines Autos. Sein Therapeut empfiehlt ihm, seine Geschichte aufzuschreiben, ohne Rücksicht darauf, was wahr ist und was nicht. Lebenserzählungen seien ohnehin immer Fiktionen: «Jeder ist der Held seiner eigenen Märchen.»
Ismet â der in Amerika «Izzy» genannt wird â kämpft nun schreibend darum, seinen chaotischen Erfahrungen eine Form zu geben. Wir lesen Auszüge aus seinem amerikanischen Tagebuch, zumeist verzweifelte Hilferufe an die Mutter daheim im fernen Tuzla, Zeugnisse von Vereinsamung und wachsender Verlorenheit: «Ich habe kein Heimweh,
mati
. Ich bin die ganze Zeit daheim. In der Vergangenheit. In der Fiktion.»
Den Hauptteil von «Scherben» bilden die für den Therapeutenaufgeschriebenen Erinnerungen an diese Vergangenheit, an Ismets Kindheit und Jugend in Tuzla. Sie brechen eruptiv hervor, ohne Chronologie und ohne Logik: Erlebnissplitter, Flashbacks und Fragmente von Konfessionen, mal in der Ich-Form, mal in der zweiten oder dritten Person erzählt. Es entstehen die Umrisse eines beschädigten Lebens mit ungewisser Identität. Die vielen chaotischen Leben, die Ismet lebt, bilden sich auch in den chaotischen Bruchstücken seiner Lebenserzählung ab. Sein Leben ist vom Chaos geprägt: «Chaos war die Normalität. Und die Normalität war unnatürlich, brüchig.»
Ismet ist fünfzehn, als im Mai 1992 der Krieg Tuzla erreicht und die bosnischen Serben die Stadt im Nordosten von Bosnien-Herzegowina zu beschieÃen beginnen und bald vollständig einschlieÃen. Und er ist achtzehn, als er im Herbst 1995 das demolierte Tuzla hinter sich lassen und auswandern kann â knapp, ehe er in Bosnien zum Kriegsdienst eingezogen worden wäre. Fortan peinigt ihn die schizophrene Vorstellung, dass ein anderer «achtzehnjähriger Ismet für immer in der belagerten Stadt bleiben würde, inmitten eines niemals endenden Krieges».
In den drei Belagerungsjahren dazwischen muss sich Ismet daran gewöhnen, dass ein Leben unter Dauerbeschuss zum Normalzustand werden kann: «Zivilisten fällten Bäume im Park, wurden auf FuÃballplätzen beerdigt, verfeuerten Bücher und Möbel, hielten Hühner auf dem Balkon, reparierten Schuhe mit Klebeband, jagten und aÃen Tauben, bauten Ãfen aus alten Waschmaschinen, züchteten Pilze im Keller, ersetzten kaputte Fensterscheiben durch schmutziges Plastik, drehten durch und sprangen von Hochhäusern, verdünnten Brennspiritus mit Kamillentee, damit er nicht mehr feuergefährlich war, und tranken ihn, drehten sich Kräuterzigaretten aus Klopapier, litten, hofften, warteten, fickten.» Indem sich Ismet PrciÄ das Leben in der eingeschlossenen Stadt in der Erzählung vergegenwärtigt, schreibt er auch Tuzla in die jugoslawischen Belagerungsmythen ein â in einer Reihe mit Sarajevo und ViÅ¡egrad.
Der Roman-Ismet erprobt verwegene Ãberlebenstechniken, denn eine Jugend, verbracht in Luftschutzkellern, kann doch nicht alles gewesen sein. Er übt sich im Widerstand und darin, der ständigen Todesgefahr dadurch zu trotzen, dass er sie ignoriert
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