Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
Vom Netzwerk:
genehmigen. Diese
Road Novel
ist außerdem als heutige Variante zum Schelmenroman angelegt: Die beiden Freunde, zwei balkanische Schlawiner, gondeln durch ein besonders schräges, finsteres und rückständiges Osteuropa, das – bereits durch die stalinistische Herrschaft verwahrlost – im Post-Stalinismus auf skurrile Weise als noch weiter heruntergewirtschaftet erscheint.
    Während Brik, ein Träumer und Faulpelz, über seine Fremdheitsgefühle in den leistungsbesessenen USA und über seine scheiternde Ehe mit einer 150-prozentigen Amerikanerin nachgrübelt, erzählt Rora unterwegs Anekdoten aus dem belagerten Sarajevo, denn anders als Brik hat er den Bürgerkrieg in Bosnien am eigenen Leib erlebt, mehr noch: Er war auf die bedenklichste Weise darin verwickelt, wenn denn seinen horrenden Erzählungen zu trauen ist. Rora behauptet, alles selbst erlebt oder zumindest aus sicherer Quelle erfahren zu haben, jede einzelne grässliche Kriegsepisode. Doch kann man ihm trauen? Rora erscheint als unzuverlässiger Erzähler, als Aufschneider, Lügner, Maulheld und Luftikus. Handelt es sich bei seinen schaurigen Kriegsgeschichten um wahre Erlebnisse oder um Flunkereien, um Horror Fantasy, um grausige Frontwitze?
    Eines ist jedenfalls klar: Es handelt sich um Aleksandar Hemons geglückten Versuch, den Bürgerkrieg auf dem Balkan, den er selbst nicht miterlebt hat, in einen neuen Mythos zu verwandeln – den Mythos vom schmutzigen bosnischen Helden/Verbrecher/Kriegsgewinnler. Denn untergründig läuft durch den ganzen «Lazarus»-Roman eine weitere Lebensgeschichte mit, wie sie von Hemons Romanfigur Rora in fragwürdigen Fragmenten erzählt wird: die negative Heldengeschichteeines bosnischen Gangsters und Freischärlers, der sich im Krieg den Übernamen «Rambo» zulegte.
    Dieser Rambo entstammt dem hartgesottenen kriminellen Milieu der ČarÅ¡ija, des alten Bazars von Sarajevo, stellt zu Beginn der Belagerung eine bewaffnete bosnische Freischärlereinheit zusammen, in die auch Rora eingetreten sein will, requiriert den Unterhalt seiner Truppe durch Plünderungen im großen Stil, spielt sich als Beschützer der ausländischen Kriegskorrespondenten in Sarajevo auf, die er zugleich im
Tough Poker
um ihr ganzes Geld betrügt, und lässt sich schließlich auf riskante Geschäfte mit den Serben auf der anderen Seite ein, wie Rora erzählt: «Er sammelte die Leichen von Serben ein, die im belagerten Sarajevo gefallen waren, und transportierte sie über den Fluss zu seinen Partnern bei den Tschetniks; die bekamen Geld von den Familien der Gefallenen und machten mit Rambo halbe-halbe. Rambos Leute holten die Leichen aus der Leichenhalle oder von der Straße, schmuggelten sie durch den Rattentunnel – so nannten sie das riesige Abwasserrohr beim Landesmuseum – und trugen sie dann durch den Fluss. Das Geschäft brummte, und gegen horrende Bezahlung schmuggelte Rambo sogar ein paar lebende Serben aus der Stadt.»
    In diesem abgebrühten Ton lässt Hemon seinen Rora vom Kriegsalltag in Sarajevo erzählen. Auf die Geschichte vom Geschäft mit dem Leichenschmuggel folgen weitere und immer grausigere Gräuel-Anekdoten aus dem «Paralleluniversum der Niedertracht und des Mordes». Auf der Rambo-Ebene ist der Krieg nichts als ein Freibrief, aus der Anarchie rücksichtslos Profit zu schlagen. Die heroischen bosnischen Opfererzählungen über die eingeschlossene Stadt werden durch Roras Verbrechergeschichten drastisch entwertet. Und nach dem Krieg, so Roras Darstellung, habe Rambo im Drogenhandel und als mächtiger Unterweltboss in Sarajevo erst recht Karriere gemacht: «Rambo hat gewonnen. Keiner kann ihm mehr was anhaben. Inzwischen gehört Rambo mehr oder minder zur Regierung. Die Geschäfte laufen wie geschmiert: Er beschafft ihnen Geld, und für sie ist er ein Kriegsheld.»
    Aleksandar Hemon stellt hier den gängigen Opfermythen einen Gegenmythos entgegen, um ihn dann in aufklärerischer Absicht zu dekonstruieren, im Zeichen zynischer Vernunft: «Am Anfang hat jederKrieg eine saubere Logik: Die wollen uns umbringen, wir wollen nicht sterben. Aber mit der Zeit wird etwas anderes daraus, der Krieg wird zu einem Raum, in dem jeder jederzeit jeden umbringen kann, in dem jeder jeden tot sehen will, weil man nur dann mit Sicherheit am Leben bleibt, wenn alle anderen tot sind.»
    So nimmt es nicht

Weitere Kostenlose Bücher