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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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– vom Kindheitsferien-Märchen («Inseln») bis zur ironisch gebrochenen Spionage-Story («Der Spionagering Sorge») und vom blutig-krassen Kriegsporträt Sarajevos («Eine Münze») bis zur surrealen parodistischen Tändelei mit einer Zelig-artigen erfundenen Jahrhundertfigur («Leben und Werk des Alphonse Kauders»). Mit dem Jahrhundertroman «Lazarus» treibt Hemon diese Registerwechsel vollends ins Aberwitzige.
    Immer wieder thematisiert er die Lage von Menschen, die aus ihrem gewohnten Kontext herausgerissen und in einen anderen geschleudert werden, den sie zunächst nicht begreifen und so lange auch nicht begreifen können, als sie sich «freudlos in ihrem früheren Leben wälzen». Es geht ihm um das Motiv der komplexen Zugehörigkeiten (und Unzugehörigkeiten) migrantischer Menschen und der kuriosen Identitätsprobleme von Sprach- und Kulturwechslern, vor allem, wenn sie sich mit dem
American Way of Life
abmühen. Seine Doppelgängerfigur Jozef Pronek muss sich klarmachen, «dass sein früheres Leben für andere völlig unzugänglich war und dass er es komplett neu erfinden und sich wie ein Spion eine neue Biographie zulegen konnte». Und seiner Doppelgängerfigur im «Lazarus»-Roman, dem bosnischen Migranten und Schriftsteller Brik, dämmert eine paradoxeWahrheit: «Wenn du nicht nach Hause kannst, kannst du nirgendwohin, und Nirgendwo ist das größte Land der Welt, ja, die Welt selbst.»
    Hemon konnte jahrelang nicht nach Hause in seine eingeschlossene und Schrapnell-durchsiebte Stadt. Aber gerade, weil er selbst nicht dabei war, als die Stadt im Widerstand verwüstet wurde, lässt ihn das belagerte Sarajevo nicht los, mehr noch: das Nicht-dabei-gewesen-Sein gibt ihm alle Freiheit, den Sarajevo-Mythos literarisch auszuspinnen und mit ungeahnt prägnanten Details anzureichern, beispielsweise den Mythos der «Snajperska Aleja» in der Erzählung «Eine Münze»:
    Â«Angenommen, es gibt einen Punkt A und einen Punkt B, und um von A nach B zu kommen, musst du eine freie Strecke überwinden, die für einen geübten Heckenschützen gut einzusehen ist. Du musst von Punkt A zu Punkt B laufen, und je schneller du läufst, desto wahrscheinlicher ist es, dass du Punkt B lebend erreichst. Die Strecke zwischen Punkt A und Punkt B ist mit Dingen übersät, die spurtende Bürger unterwegs verloren oder weggeworfen haben. Eine schwarze Brieftasche aus Leder, wahrscheinlich leer. Eine Geldbörse, weit aufgerissen wie ein Maul. Ein weißer Wasserbehälter aus Kunststoff mit einem Einschussloch genau in der Mitte. Ein grün-rot-brauner, mit Schneeflocken verzierter Schal, schmutzig. Ein aufgeweichter Brotlaib, auf dem geschäftige Ameisen herumkrabbeln, als bauten sie eine Pyramide. Eine zerstörte Videokassette, deren Teile immer noch an einem dunklen, verschlungenen Band hängen. An manchen Tagen gehen die Heckenschützen besonders rabiat vor, und dann liegen da vereinzelt auch Leichen, oder es sind Schwerverletzte, die sich mit zuckenden Bewegungen in Sicherheit bringen wollen, wobei sie, wie Schnecken, eine blutige Spur hinter sich herziehen. Nur selten versucht jemand, ihnen zu helfen, denn jeder weiß, dass die Heckenschützen genau darauf warten. Manchmal erbarmt sich ein Heckenschütze und gibt den Kriechenden den Gnadenschuss. Aber manchmal spielen die Heckenschützen mit den Angeschossenen und schießen ihnen die Knie, die Füße oder die Ellbogen weg. Es sieht aus, als wetteten sie untereinander, wie weit ihr Opfer noch kommen wird, bevor es verblutet.»
    Auch der Tunnel von Sarajevo wird von Hemon ins Mythische überhöht, wiewohl – oder gerade weil – er selbst den unterirdischen Rettungsgang unter der Flughafen-Rollbahn nie entlanggekrochen ist. Hemon täuscht keine Unmittelbarkeit persönlichen Erlebens vor, stattdessen entwirft er ein mythisches Bild des Tunnels als Totenreich, als Ort des Übergangs von einer Welt in die andere, als Ort einer Auferstehung, durchaus im biblischen Sinne.
    Im «Lazarus»-Roman lässt er den Jugendfreund des Ich-Erzählers Brik, den Fotografen Rora, durch den Tunnel aus der belagerten Stadt entkommen: «Wenn man in Sarajevo in den Tunnel unter der Rollbahn hinunterstieg, sagte Rora, trat man in die Dunkelheit und stieß sich gleich am ersten Balken den Schädel an. Die Augen stellten sich ein, man

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