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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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Hemon beobachtete zu seinem Entsetzen, wie aus dem urbanen Gelehrten, den er verehrt hatte, ein Parteigänger von Massenmördern und Kriegsverbrechern wurde – eine bösartige Karikatur seines früheren Selbst. Der intellektuelle Verrat seines einstigen Mentors verstörte Hemon zutiefst: «Heute weiß ich, dass Koljevićs Unmenschlichkeit mein Leben weit mehr geprägt hat als seine literarische Vision. Ich löschte diesen wertvollen, jugendlichen Teil von mir, der geglaubt hatte, dass man die Geschichte ignorieren und sich mithilfe der Kunst vor dem Bösen verstecken könnte.»
    Dieses Abdriften seines Lehrers in die Unmenschlichkeit trug dazu bei, Hemons Sprachkrise zu verstärken. «Ich versuchte, den genauen Punkt zu erkennen, wo Koljević die Linie übertreten hat», sagte er Jahre später einem Interviewer. «Wann genau ist es passiert? Gab es Zeichen, und welche waren das? Hätte man es wissen können? Dass einer die Literatur lieben und Shakespeare im Munde führen und zugleich ein schlechter Mensch sein konnte – das musste ich nun begreifen lernen.»
    Das war Professor Koljevićs letzte Lektion für seinen Lieblingsschüler. Nach dem Ende des Bürgerkriegs sah sich Koljević übrigens um die erhoffte politische Spitzenstellung geprellt, beiseitegeschoben von noch ruchloseren serbischen Karrieristen. Als Kriegsverbrecher verfolgt, versank er in einem Stupor aus Alkohol, Verleugnung und Selbstmitleid. An einem Wintertag im Januar 1997 erschoss er sich. Hemons Nachruf klingt kaustisch: «1997 pustete er sich sein shakespeareschweres Gehirn aus dem Kopf. Er musste zweimal schießen, seine langen Klavierspielerfinger hatten beim ersten Mal wohl gezittert.»
    Zu diesem Zeitpunkt war Aleksandar Hemons amerikanische Karriere bereits im Begriff abzuheben. Mit Nabokovs Hilfe hatte er den Sprachwechsel geschafft. Diese Großtat – eine Art literaturolympischer Berlitz-Kurs – darf seither in keinem journalistischen Hemon-Porträt fehlen. Wie er in einem Exemplar von Nabokovs «Lolita» jedes unbekannte Wort – und das waren acht, zehn Wörter auf jeder Seite – unterstrich und im
Oxford English Dictionary
nachschlug; wie er Wörterlisten und Karteikarten anlegte und auswendig lernte, gepeitscht von seinen «Bibliotheksdämonen»; wie er ein mentales Schatzhaus sprachlicher Reichtümer mitsamt den ausgefallensten Wörtern zusammentrug; wie er die kuriosesten von ihnen bei seinen Hausierer-Touren an seinen Kunden ausprobierte, und wie ihn diese nur perplex anstarren konnten.
    So öffnete ihm «Lolita» die Tür zum Klub der amerikanischen Schriftsteller. An Nabokov erinnern Hemons Vorliebe für extravagante Vergleiche, seine subtil timbrierten Stimmungen zwischen Selbstverspottung und Melancholie, seine Kunst, die unbelebte Welt sprachlich zu animieren und das Alltägliche und Abgenutzte durch ungewöhnliche sprachliche Bilder zu erfrischen. Bei ihm äpfelt ein Ross nicht einfach, vielmehr sieht man, «wie sich der Anus des Pferdes gleich der Blende einer Kamera langsam öffnet». Und sein Jozef Pronek hat nicht einfach Heimweh nach Sarajevo, vielmehr «wütet Nostalgie wie eine Stahlkugel in seinen Eingeweiden».
    Hemons erste Geschichten in seiner zweiten Sprache wurden noch in entlegenen literarischen Magazinen veröffentlicht. Um die Rechtean seiner ersten Geschichtensammlung «Die Sache mit Bruno» wetteiferten bereits Verlagsagenten aus ganz Amerika. Bei der Auktion erhielt Doubleday den Zuschlag für 154.000 Dollar, die höchste Summe, die in jenem Jahr für ein belletristisches Debüt gezahlt wurde. Und es kam noch besser: 2004 wurde Aleksandar Hemon der «Genius Award» der MacArthur-Stiftung zugesprochen: ein Stipendium in Höhe von 500.000 Dollar, auszahlbar in jährlichen Raten über fünf Jahre hinweg, verbunden mit keinerlei Verpflichtungen. Das verschaffte ihm den Freiraum für ein großes Werk, den Roman «Lazarus», der nicht nur in den USA enthusiastisch aufgenommen wurde. Der Großkritiker James Wood nannte Hemons Prosa «bemerkenswert für ihren Schliff und Glanz und ihre sarkastische Beherrschung der Register».
    In der Tat: Schon die acht Stories, die in «Die Sache mit Bruno» versammelt sind, vermitteln eine Ahnung davon, wie virtuos Hemon die Register wechseln und mit Erzählformen und Stil-Lagen spielen kann

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