Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
wunder, dass Rora ganz beiläufig auch den Heldenmythos der «Allee der Heckenschützen» ins Zynische umstülpt, wenn er von einem amerikanischen Kriegsreporter erzählt, der von ihm verlangt habe, «viele Fotos von Kindern zu machen, die vor Scharfschützen davonliefen, sich duckten und sich hinter Mülltonnen versteckten, obwohl die StraÃe unter schwerem Scharfschützenbeschuss lag. Er hat den Kindern Geld dafür gegeben, dass sie durch den Geschosshagel hin- und herliefen, damit ich ein perfektes Bild machen konnte.»
Der «Lazarus»-Roman hat also einen doppelten, ja, dreifachen Boden. Hemon spiegelt die Tragödie des Lazarus Averbuch, den historischen Fall einer kollektiven politischen Hysterie, im Heute und verschränkt den dokumentarischen Mordfall mit der Gegenwart â auf doppelte Weise. Er zieht Parallelen zwischen dem Anarchistenwahn von damals, der sich im Haymarket-Massaker von Chicago entlud, und der Jihadisten- und Islamistenfurcht im heutigen Amerika â beide Hysterien zeitigen ähnlich kopflose Ãberreaktionen. Und er erzählt zweierlei Rückkehr-Geschichten über Ausgewanderte: die stellvertretende Rückkehr von Brik und Rora in Lazarus Averbuchs alte Heimat und ihre eigene Rückkehr nach Sarajevo, mit zum Teil tragischem Ausgang. Beide Fahrten führen in eine Totenwelt â nichts von den multikulturellen alten Heimaten, sei es die Schtetl-Welt, sei es das Vorkriegs-Sarajevo, ist noch vorhanden, nichts ist wiederzuerkennen. Nur die Mythen existieren.
Die GroÃmetapher des Romans, sein zentrales Motiv, klingt bereits im Titel an. Wie der biblische Lazarus ist auch Averbuch aus dem Totenreich entronnen, aus der Welt der russischen Pogrome, um ein neues Leben zu beginnen, als Wiederauferstandener in Amerika. Brik und Rora sind ebenfalls aus Todeszonen entflohen und suchen ein neues Leben in Amerika. Besonders Rora, der durch die Todeszone des Sarajevo-Tunnelsgekrochen ist, ist ein Wiederauferstandener. Und indem Brik einen Roman über Lazarus schreibt (und Aleksandar Hemon einen Roman über Brik schreibt, der über Lazarus schreibt), soll der tote Lazarus Averbuch wieder zum Leben erweckt werden. Erkennbar wird Lazarus als das Urbild des Migranten, des Wanderers zwischen verschiedenen Welten. Er ist entwurzelt, ein doppelter AuÃenseiter, der in keiner Welt heimisch sein kann.
So verbinden sich bei Aleksandar Hemon auf untergründige Weise die jugoslawischen Zerfallsgeschichten mit zeit- und raumübergreifenden Migrantenerzählungen und neuen Balkanmythen, die in seinen Texten aufgehoben erscheinen â zugleich aufgesammelt, festgeschrieben, gespeichert, tradiert, skeptisch infrage gestellt und auÃer Kraft gesetzt.
Erwähnte Bücher
Ivo AndriÄ Â«Die Brücke über die Drina», Roman (Zsolnay 2011)
Aleksandar Hemon «Die Sache mit Bruno», Erzählungen (Knaus 2000)
Aleksandar Hemon «Nowhere Man», Roman (Knaus 2003)
Aleksandar Hemon «Lazarus», Roman (Knaus 2009)
Aleksandar Hemon «Liebe und Hindernisse. Stories» (Knaus 2010)
Aleksandar Hemon «Das Buch meiner Leben», Erzählungen (Knaus 2013)
Dževad Karahasan «Sara und Serafina», Roman (Rowohlt Berlin 2000)
Dževad Karahasan «Das Buch der Gärten. Grenzgänge zwischen Islam und Christentum» (Insel 2002)
Dževad Karahasan «Der nächtliche Rat», Roman (Insel 2006)
Téa Obreht «Die Tigerfrau», Roman (Rowohlt Berlin 2012)
Ismet PrciÄ Â«Scherben», Roman (Suhrkamp 2013)
SaÅ¡a StanisiÄ Â«Wie der Soldat das Grammofon repariert», Roman (Luchterhand 2006)
Bibliographie
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Chinua Achebe «Alles zerfällt», Roman (Heinemann 1958; S. Fischer 2012)
Chinua Achebe «There Was a Country. A Personal History of Biafra» (The Penguin Press 2012)
Chimamanda Ngozi Adichie «Blauer Hibiskus», Roman (btb Verlag 2007)
Chimamanda Ngozi Adichie «Die Hälfte der Sonne», Roman (btb Verlag 2008)
Chimamanda Ngozi Adichie «Heimsuchungen. Zwölf Erzählungen» (S. Fischer 2012)
Jamil Ahmad «Der Weg des Falken», Erzählungen (Hoffmann und Campe 2013)
Uwem Akpan «Sag, dass du eine von ihnen bist», Erzählungen (Suhrkamp 2012)
Monica Ali «Brick Lane», Roman (Droemer 2004)
Pius Alibek «Als ich unter Sternen schlief», Erinnerungen (Insel 2011)
Tahmima Anam «Zeit der VerheiÃungen», Roman (Insel
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