Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
beugte den Nacken und ging weiter, tiefer und immer tiefer. Es war wie der Abstieg in die Hölle, und es roch auch so: Erde, SchweiÃ, Angst, Fürze, Aftershave. Man stolperte und stieà an die kalten Erdwände, man war in einem Grab, und eine Leiche konnte einen packen und tiefer in die Erde zerren. Es gab keine Markierungen, man wusste also nicht, wie weit man im Tunnel drin war, hatte nur eine ungefähre Vorstellung, ahnte nur den Menschen, der vor einem war. Man verlor jedes Zeitgefühl, bekam keine Luft â alte Leute wurden regelmäÃig ohnmächtig â, und gerade wenn es schien, als würde man jeden Moment zu atmen aufhören, spürte man ein leises Lüftchen und nahm einen winzigen Lichtschimmer wahr, und dann trat man hinaus in eine Helligkeit wie von tausend Sonnen. Ich habe von Menschen gelesen, die gestorben und dann doch ins Leben zurückgekehrt sind. Sie haben es beschrieben wie den Gang durch einen Tunnel. Ja, also der Tunnel, durch den sie gingen, war unter der Rollbahn des Flughafens Sarajevo.»
Erst Jahre nach Kriegsende kehrte Hemon als Besucher wieder in seine verlorene Geburtsstadt zurück â nur um zu erkennen, dass er sie wirklich verloren hat. Im «Buch meiner Leben» beschreibt er seine Trauer: «Ich war heimatlos an einem Ort, der einmal meine Heimat gewesen war. In Sarajevo war alles schmerzhaft vertraut und zugleich gespenstisch fern. Meine Entwurzelung war ebenso metaphysisch wie physisch. Aber ich konnte nicht nirgends leben. Ich wollte auch vonChicago bekommen, was Sarajevo mir gegeben hatte â eine Geographie der Seele.» In seinem «Lazarus»-Roman ist diese Suche nach einer Geographie der Seele eines der Leitmotive.
In diesem Migrantenroman geht Aleksandar Hemon aufs Ganze, wofür er von der Kritik beiderseits des Atlantiks gefeiert wurde. Der Roman entfaltet ein virtuoses Spiel mit unterschiedlichen Stil-Lagen, Stoffen und Techniken. Er besticht durch seinen bitter-komischen Erzählton, der sich herzzerreiÃend liest, jedoch nie die souveräne Selbstironie des Autors verhehlt, der die Welt mit dem sarkastischen Blick des doppelten AuÃenseiters betrachtet, sich zugleich aber bewusst macht, «dass meine Emigranteninnenwelt sich allmählich mit der amerikanischen AuÃenwelt verbunden hatte», wie er im «Buch meiner Leben» feststellt.
Das «Lazarus»-Buch besteht aus mehreren Romanen in einem. Es ist zunächst ein historischer Roman über einen tragischen Mordfall, der sich 1908 in Chicago zutrug. Der Polizeipräsident der Stadt erschieÃt in Panik einen jungen Immigranten, Lazarus Averbuch, weil er ihn für einen Anarchisten und Attentäter hält. Doch der Junge war offenkundig unschuldig â ein Opfer der amerikanischen Immigranten â und Anarchistenfurcht jener Jahre. Ein tragisches Opfer zudem, denn der junge Averbuch ist 1903 als halbes Kind den russischen Pogromen in Kischinjew entgangen und vor den Judenverfolgungen in seiner Heimat in die USA geflohen â nur, um dort einem wahnhaften amerikanischen Fremden- und Rassenhass zum Opfer zu fallen. Dieser Erzählstrang des Romans ist eine Archiv-Expedition, fokussiert auf die historisch dokumentierte Geschichte über den Mord und die nachträglichen Versuche, ihn zu vertuschen beziehungsweise aufzuklären.
In einem zweiten Erzählstrang, auf der Gegenwartsebene des Romans, wird der historische Roman angereichert durch eine Reisereportage, ein Recherche-Abenteuer, eine
Road Novel
und die Geschichte einer Männerfreundschaft. Hundert Jahre nach der Ermordung Lazarus Averbuchs wird der Fall wieder aufgegriffen, durch einen anderen europäischen Immigranten, dem es in Amerika nicht gut geht, den Schriftsteller Brik. Im Jahr 2008 reisen Brik und der Fotograf Rora, die beide aus Sarajevo stammen und nun als bosnische Immigranten inNordamerika leben, nach Osteuropa, in die Ukraine, nach Moldawien und in die Bukowina. Sie begeben sich auf die Suche nach dem verschwundenen Judentum in Kischinjew, Czernowitz und Lemberg, in der Hoffnung, im Laufe dieser Schtetl-Wallfahrt auf Spuren von Lazarus Averbuch zu stoÃen, denn Brik möchte über dessen Fall ein Buch schreiben.
Für Brik und Rora, die sich in Amerika nicht heimisch fühlen, ist diese Recherchereise auch eine Abenteuerfahrt zweier AusreiÃer, die sich einen mentalen Urlaub von der mühsamen amerikanischen Integrations- und Identitätsarbeit
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