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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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kultureller Wandel hat das Dorf erfasst. Die Dorfgemeinschaft zerfällt, ein Teil hat sich dem Christentum angeschlossen. Britische Kolonialherren ziehen ihr neues und fremdes Regime auf. Die Dorfbewohner schwanken zwischen Ratlosigkeit, Ducken und Anpassung. Nur Okonkwo führt einen einsamen, störrischen und zunehmend aussichtsloseren Kampf gegen das Neue. Den Anforderungen eines Macht- und Kulturwandels durch das Auftauchen bleicher Männer auf Fahrrädern kann und will er sich nicht fügen. Anpassung erscheint ihm als unmännlich und ist daher keine Option. Sein Widerstand treibt ihn in eine verzweifelt aussichtslose Lage völliger Isolation. Angesichts der neuen Kolonialherren verliert sein ganzes Leben seinen Sinn. Er muss sich eingestehen, dass die Igbo nicht kämpfen werden, um ihre traditionelle Lebensweise zu bewahren. In seinem Widerstand steht er völlig allein.
    Schließlich tötet er einen Gerichtsdiener und erhängt sich danach – eine ultimative Untat nach Auffassung der Igbo, weil ein Selbstmörder seinen Platz im traditionellen Milieu der Ahnenverehrung verliert. Es ist Okonkwos Tragödie, dass er letztlich aus beiden Wertesystemen herausfällt, dem alten und dem neuen, weil er beiden Systemen nicht genügen kann. Das letzte Wort im Roman hat der britische
District Commissioner,
der als Sieger die Geschichte schreiben wird. Einen Titel für sein Buch hat er schon: «Die Befriedung der primitiven Stämme von Südnigeria».
    Doch das darf nicht das letzte Wort zur Deutungshoheit über Afrika gewesen sein. Chimamanda Adichie würdigt in ihrem Erzählungsband «Heimsuchungen» den verehrten Chinua Achebe mit einer speziellen Hommage. Die Heldin ihrer Geschichte «Die eigenwillige Historikerin», die alte Igbo-Dorffrau Nwamgba, ist ein weibliches Gegenstück zum widerspenstigen Traditionsbewahrer Okonkwo. IhrKampf um die Bewahrung einer afrikanischen Identität endet nicht ganz so hoffnungslos wie bei Achebe. Denn Nwamgba hat eine Enkelin, die den Kampf um die Erinnerung auf ihre Art weiterführt und sich aktiv der Fehlmeinung widersetzt, Afrika habe keine Geschichte. Sie studiert, wird Historikerin und plant ein Buch. Einen Titel hat sie schon: «Befriedung mit Gewehrkugeln. Eine wiedergewonnene Geschichte Südnigerias». Beim Gericht in Lagos lässt sie ihren Vornamen Grace offiziell zurückändern in den Namen, den ihr die Großmutter einst gegeben hatte: Afamefuna («Mein Name wird nicht verloren sein»).
    Die große Pathos-Frage der afrikanischen Identität ist natürlich nicht das einzige Thema, an dem sich englischsprachige nigerianische Autoren abarbeiten. Für Ken Saro-Wiwa oder Helon Habila etwa stehen eher die negativen Folgen des technischen und zivilisatorischen Fortschritts im Mittelpunkt des literarischen Interesses. In ihren Romanen und Erzählungen gehen Rückständigkeit und staatliche Willkür, ein unfähiges Beamtentum und die Ausbeutungsgier ausländischer Unternehmen ein unheilvolles Bündnis mit Korruption und Verbrechen ein, sehr zum Nachteil einer, wie schon Chinua Achebe feststellte, nie wirklich unabhängig gewordenen Ex-Kolonie. Beide Autoren machen vor allem die Umweltkatastrophe im Nigerdelta zu ihrem Thema, wiewohl aus sehr unterschiedlicher Perspektive – Ken Saro-Wiwa beispielsweise in seinem Erzählungsband «Die Sterne dort unten», Helon Habila in seinem Roman «Öl auf Wasser».
    Seit fünfzig Jahren wird der Ölreichtum im Nigerdelta ausgebeutet, woran in erster Linie ausländische Mineralöl-Konzerne und die nigerianische Regierung verdienen, die etwa 90 Prozent der Nettogewinne einbehält. Die Mehrzahl der fast zwanzig Millionen Einwohner des Deltas lebt dennoch in bitterster Armut. Vom Ölreichtum kommt nichts bei ihnen an, die üppigen Erträge des Ölbooms werden anderswo geerntet. Vielmehr werden durch schadhafte (oder auch durch Sabotage beschädigte und illegal angezapfte) Ölleitungen die landwirtschaftlichen Nutzflächen und die Fischgründe im Delta ruiniert. Die Ölpest ist laut einem UN-Bericht eine der schlimmsten Umweltkatastrophen weltweit, ein Öko-Desaster unvorstellbaren Ausmaßes.Es würde nach UN-Schätzungen dreißig Jahre dauern und über eine Milliarde Dollar kosten, um Landflächen und Gewässer in der Region zu sanieren.
    Wegen der Umweltschäden, die die

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