Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
Fluchtbild: Das Kind, das alles Schreckliche durchgemacht hat und dem noch Schlimmeres droht, läuft auf und davon. Es verliert sich in den StraÃen von Nairobi oder rennt hinaus in die Weiten Afrikas. Manchmal nimmt es das kleine Geschwisterkind mit auf die Flucht ins Freie, manchmal nicht. «Ich mischte mich unter die fortlaufenden Kids und verschwand in Nairobi» («Ein Weihnachtsessen»). «Ich rannte ins Dickicht. Ich rannte und rannte und wusste doch, den herzzerreiÃenden Rufen meiner Schwester würde ich nie mehr entkommen» («Mästen für Gabun»). «Sei ein gutes Mädchen, geh aus dem Haus und komm nicht zurück!», wird dem Kind in Ruanda geraten: «Mit Jean auf dem Rücken verschwinde ich im Busch. Wir wollen leben; wir wollen nicht sterben. Ich muss stark sein» («Sag, dass du eine von ihnen bist»).
In der längsten Erzählung «Luxusleichenwagen» funktioniert auch das nicht. Da flüchtet ein 16-jähriger Junge vor dem Bürgerkrieg im radikal-islamischen Norden Nigerias und schwindelt sich in einen Reisebus unter lauter Igbo-Christen, die in den Süden fliehen. Ständig fürchtet er, als Muslim aus dem Norden erkannt und von den Christenim Bus gelyncht zu werden. Zwei Dinge könnten ihn verraten: sein Akzent als Junge aus dem Norden und sein verstümmelter rechter Arm â gemäà der Scharia, die im Norden herrscht, wurde ihm als Dieb die rechte Hand abgeschlagen. Nun hält er während der ganzen Fahrt die Rechte krampfhaft in der Tasche versteckt und vermeidet es, mit den Leuten im Bus zu sprechen. Wenn er überhaupt spricht, dann nuschelt er nur: «Ich bin einer von euch.» Doch das kann ihn nicht retten. Letztlich wird er doch erkannt.
Die Erzählung spiegelt allegorisch Nigerias Bürgerkriegskämpfe und konzentriert alle verfeindeten Volksgruppen im Mikrokosmos einer Busreisegesellschaft. Alle Probleme dieses Landes im Kriegszustand werden angesprochen, und jedes Problem findet seinen Wortführer im Bus. Es entsteht das Bild einer ethnisch, politisch und religiös zerrissenen Gesellschaft im Kriegszustand, ruiniert durch Korruption und Umweltzerstörung. Uwem Akpan benennt alle Grundübel des Landes: die Spannungen zwischen den alten animistischen Stammesreligionen und den Christen sowie auch die Spannungen zwischen dem armen radikal-islamischen Norden und dem ölreichen christlichen Süden; die Umweltzerstörung durch die Ãlförderung im Nigerdelta, die Ausbeutung der Bodenschätze durch ausländische Ãlfirmen; die Verheerungen durch eine ökonomisch ruinöse und korrupte Militärdiktatur; die Anlaufschwierigkeiten einer schwachen Demokratie. Die verschiedenen Klassen, Ethnien und Religionen werden vom Autor sprachlich genau differenziert, in ihren jeweiligen Dialekten und Redestilen. Welchen Dialekt die Figuren sprechen, ob Igbo oder Hausa, verrät ihre Zugehörigkeit zum Norden oder zum Süden, als Christ oder als Muslim.
Auf die Frage, worin sich die Fremdheit zwischen Afrika und dem Westen am deutlichsten äuÃert, würden Chimamanda Ngozi Adichie und Uwem Akpan als gelehrige Schüler Chinua Achebes wohl antworten: im Zeitgefühl und in den Eigennamen. In den Erzählungen beider Autoren finden sich dafür eindrückliche Beispiele. Beide thematisieren immer wieder das Besondere am afrikanischen Zeitgefühl und an den afrikanischen Eigennamen. Beide kommen in ihren Stories immer wieder darauf zu sprechen, dass kaum etwas das Selbstgefühl und dieWürde von Afrikanern mehr beschädigt als die Geschichtslosigkeit und der Namensverlust.
In Nigeria, dem multiethnisch zersplitterten Ãl-Staat, drehen sich seit je die Jahre um sich selbst, im steten Wechsel zwischen der Regenzeit und der Trockenzeit des Wüstenwindes Harmattan, sodass die britischen Kolonialherren des 19. Jahrhunderts sich fragten, ob es das in Afrika überhaupt geben kann: eine historische Zeit, eine Geschichte. Und für die weiÃen Missionare bedeutete Taufen immer zugleich Umtaufen: Mit dem Ahnenglauben ihrer Väter mussten die Täuflinge auch ihre afrikanischen Namen ablegen und verloren damit einen Teil ihrer Identität. Aus Anikwenwa («Der Erdgott Ani hat endlich ein Kind geschenkt») wurde Michael, aus Afamefuna («Mein Name wird nicht verloren sein») wurde Grace.
In Adichies Story «Die Ehestifter» folgt die junge Chinaza («Gott
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