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Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler

Titel: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Löffler
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erhört Gebete») aus Lagos ihrem Ehemann Ofodile nach New York, nur um dort festzustellen, dass der anpassungsbeflissene Spitalsarzt seine nigerianische Identität aufgegeben hat und sich in Amerika Dave Bell nennt. «Wenn du in diesem Land was erreichen willst, musst du dich dem Mainstream so weit wie möglich anpassen», belehrt er seine Frau. Doch Chinaza kann und will sich nicht derart verleugnen. Sie behält ihren angestammten Igbo-Namen und verlässt ihren Ehemann.
    In Uwem Akpans Erzählung «Mästen für Gabun» werden ein zehnjähriger Junge in Nigeria und seine kleine Schwester von ihrem Onkel, einem Grenzschlepper, aufgenommen, weil ihre aidskranken Eltern auf dem Dorf nicht mehr für sie sorgen können. Die Kinder bekommen es, ähnlich wie bei Taiye Selasi, mit einer bedrohlichen und moralisch verkommenen Onkel-Figur zu tun. Halb verhungert wie sie sind, werden die Kinder vom Onkel aufgepäppelt, kommen zu Kräften und freuen sich, dass ein wohlhabendes Paar in Gabun sie angeblich adoptieren will. Als Erstes bekommen sie neue Namen verpasst: Pascal und Mary. «Du bleibst trotzdem Yewa, und ich bleib Kotchikpa», versichert der Bruder seinem verstörten Schwesterchen. Erst nach und nach dämmert dem Jungen aus aufgeschnappten Gesprächsfetzen seines Onkels mit dessen Komplizen, worum es wirklich geht – um organisierten Menschenhandel, um Kinder-Sklaverei. Der Onkel schleustnigerianische Kinder nach Gabun und verkauft sie dort an Menschenhändler zur Kinder-Prostitution. Doch Kotchikpa lässt keinen Pascal aus sich machen, sondern läuft davon.
    Die Enteignung der afrikanischen Identität ist das große Thema eines nigerianischen Autors, auf den sich die Jüngeren am häufigsten berufen: Chinua Achebe, der als der eigentliche Begründer der modernen schwarzafrikanischen Literatur gilt und 2013 mit 82 Jahren verstarb. Sein Werk genießt längst Klassikerrang. Achebes Debütroman «Alles zerfällt», den er 1958 als 28-Jähriger schrieb, ist in der Tat ein Meilenstein der auf Englisch geschriebenen afrikanischen Literatur, weltweit mehr als zehn Millionen Mal verkauft und in 45 Sprachen übersetzt. Er ist ein Schlüsseltext der postkolonialen Literatur und räumt auf mit der europäischen Klischee-Vorstellung vom primitiven, wilden und geschichtslosen Afrika vor der Kolonisierung. Achebe erzählt erstmals die Geschichte der Kolonisierung aus der Sicht der Afrikaner. Er beschreibt die Igbo-Gesellschaft in ihrer Komplexität und Vielfalt und zeigt das Eindringen der kolonialen Herrschaft in ihren zerstörerischen Auswirkungen.
    Es waren keine primitiven Wilden, die von den Kolonisatoren übermannt wurden; überwältigt wurde, wie Achebe anschaulich vorführt, eine funktionierende Gesellschaft mit ausdifferenzierten moralischen Codes, Traditionen und Glaubensvorstellungen, mit komplexen Zeremonien, Initiations- und Hochzeitsriten und einem animistisch verankerten Ahnenkult. Wenn die Briten glaubten, den Igbo die Demokratie bringen zu müssen, so zerstörten sie damit die ureigene Igbo-Demokratie – denn die Dörfler wurden nicht von Häuptlingen regiert, sondern regierten sich selbst durch einen konsensual agierenden Ältestenrat. Achebe widerlegt mit seinem Buch den imperialistischen Legitimierungsdiskurs, wonach die Kolonisierung als «zivilisatorische Mission» zu verstehen sei, mit dem Ziel, die kolonialen Völker zu erziehen und zu zivilisieren und ihnen Aufklärung und Fortschritt zu bringen.
    Das vorkoloniale Afrika, das Chinua Achebe in «Alles zerfällt» rekonstruiert, ist sorgfältig recherchiert. Es entsteht das Bild einer komplexen und Respekt gebietenden indigenen Gesellschaft; dasmacht den Roman zu einem heiligen Text in der Bundeslade der lesenden Afrikaner von heute, auf den sich viele jüngere Autoren beziehen. «Es ist der Geschichten-Erzähler, der das Bewusstsein von Geschichte erschafft», sagt Achebe. «Der Geschichten-Erzähler erschafft das Gedächtnis, dessen die Überlebenden und Nachkommenden bedürfen – sonst hätte ihr Überleben keinen Sinn und keine Bedeutung.»
    Â«Alles zerfällt» spielt in den 1890er Jahren in einem Dorf im Stammesgebiet der Igbo im Südosten des heutigen Nigeria. Der Roman thematisiert die Auflösung der alten Stammeskultur unter dem Einfluss anglikanischer Missionare und durch das

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