Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
ihr kriminelles Unwesen, entführen Geiseln, verüben Anschläge. Rebellengruppen gelingt es immerwieder, mit Sabotageakten und Geiselnahmen Shells Geschäften schweren Schaden zuzufügen. Seit 2006 werden fast routinemäÃig ausländische Shell-Mitarbeiter gekidnappt, Hunderte Menschen sind bereits ums Leben gekommen. Mit den Lösegeldern versorgen sich die aufständischen Rebellengruppen mit Waffen, sprengen Pipelines und verüben Anschläge auf Raffinerien. Regierungstruppen gehen mit groÃer Härte gegen die Rebellen vor, wobei es auch unter der Zivilbevölkerung zu vielen Todesopfern kommt.
Vor diesem Hintergrund spielt der Roman «Ãl auf Wasser». Helon Habila schickt zwei Reporter aus Port Harcourt â den Ich-Erzähler Rufus und den legendären alten Star-Journalisten Zaq â auf die Suche nach einer entführten Engländerin, der Gattin eines Ãl-Ingenieurs eines internationalen Mineralöl-Konzerns, in die labyrinthische Deltaregion des Niger-Stroms. Die beiden erhoffen sich einen journalistischen Scoop: ein Exklusiv-Interview mit dem Entführungsopfer. Doch zugleich geraten sie immer tiefer in die undurchschaubaren Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Rebellengruppen und Regierungstruppen sowie den unbeteiligten lokalen Dorfbewohnern, Bauern und Fischern, die von beiden Machtgruppen, Rebellen wie Militärs, eingeschüchtert, instrumentalisiert, drangsaliert, verjagt, vertrieben oder getötet werden. Wer momentan mit wem paktiert und wer gerade gegen wen kämpft, das ändert sich ständig und macht die Situation für alle Beteiligten lebensgefährlich, nicht nur für das Entführungsopfer.
Die gekidnappte Frau wechselt aus der Gewalt der einen Entführergruppe in eine andere, kann zwischendurch fliehen und wird wieder eingefangen, wobei das geforderte Lösegeld ständig steigt. Vor allem der junge Reporter Rufus gerät in eine Lage, die über seinen journalistischen Auftrag weit hinausgeht: Er schlittert in eine gefährliche Mittlerposition zwischen Interviewer, Unterhändler, Sendbote, Geisel und Gefangener abwechselnd der Rebellengruppen, der Militärs oder einer religiösen Sekte, die inmitten der zerstörten Landschaft einer Religion der Naturanbetung anhängt. Sein Kollege Zaq, fieber- und alkoholkrank, verfällt unterdessen immer mehr und ist den Strapazen immer weniger gewachsen.
Die Romanhandlung gehorcht allen Erfordernissen eines Action-Thrillers, in seinen chronologischen Zeitsprüngen bildet sich die zunehmende Orientierungslosigkeit und Verwirrung der Protagonisten ab. Dennoch ist der Plot bei aller erzählerischen Kunstfertigkeit nicht von zentraler Bedeutung in diesem Roman. Der eigentliche Held des Romans ist der Schauplatz: die Sumpflandschaft des Nigerdeltas mit ihren labyrinthischen Fluss- und Meeresarmen, ihren undurchdringlichen Dickichten von Mangrovenwäldern und ihren versteckten Inseln. Es ist eine apokalyptische Landschaft, überzogen von Ãlschlick, voller ölschillernder Sümpfe und ölverseuchter Gewässer, in denen Fische leblos bauchoben treiben, eine Totenlandschaft vergifteter Erde und untrinkbaren Wassers, am Horizont gespenstisch illuminiert von Abgasfackeln mit ihren giftigen Flammen und ihren schwarzen Rauchwolken.
Habilas Held Rufus ist ein präziser Beobachter, dem kein Detail dieses endzeitlichen, zerstörten Reviers voll aufgegebener Bohrinseln und durchgerosteter Ãlrohre entgeht. Er registriert das Fieberklima, die schwere, dumpf lastende, feuchte Hitze, die quälenden Moskitoschwärme, die finsteren Schwaden, die wie Rauch von den Flussufern aufsteigen: «In der Flussmitte war das Wasser klar, näher an den Ufern aber stand es brackig, eingeschlossen von den Mangroven, in deren Zweigen der Dunst in Klumpen hing wie Baumwollbällchen.»
Die Fahrt durch das Gewirr der Delta-Flussarme wird immer apokalyptischer, es ist eine andere Fahrt ins Herz der Finsternis. Wie Joseph Conrad vor mehr als hundert Jahren eine Flussfahrt auf dem Kongo beschrieb, so schildert Helon Habila die Fahrt im Nigerdelta: «Bald darauf befanden wir uns in einem dichten Mangrovensumpf; das Wasser unter uns stank nach Fäulnis und Schwefel; in Schwärmen stiegen die Insekten von der Wasseroberfläche auf und ballten sich über unseren Köpfen zu schwirrenden Wolken zusammen, stachen uns in Arme und Gesichter und Ohren. Die Luft war vom
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