Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Gefangene werden nicht gemacht … Wie sich vor tausend Jahren die Hunnen einen Namen machten, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bestätigt werden, dass niemals wieder ein Chinese wagt, etwa einen Deutschen nur scheel anzusehen.« Tatsächlich kam es durch die internationalen Truppen auch unter deutscher Beteiligung vor Ort zu Massakern. Schon vor den Strafexpeditionen hatten sich die Preußen an der chinesischen Küste einen Stützpunkt zur Sicherung ihres Handels eingerichtet. In der Kolonialbesitzung Tsingtao (heute Qingdao) entstanden protestantische Kirchen, Fachwerkhäuser und eine berühmte Brauerei. Trotz der Übergriffe ist das Deutschland-Bild weder in dieser Stadt noch sonstwo in China negativ getrübt, was vielleicht damit zu tun hat, dass andere fremde Mächte wie die Briten und vor allem die Japaner bei der Unterdrückung der einheimischen Bevölkerung noch viel umfassender und brutaler vorgegangen sind. Oder damit, dass die Deutschen mit Karl Marx und Friedrich Engels den chinesischen Revolutionären ihren ideologischen Überbau geliefert haben, dass der bayerische Kommunist und Militärstratege Otto Braun an der Seite Mao Zedongs den Langen Marsch mitorganisierte.
Nur mit wenigen Staaten hat Deutschland derzeit einen so intensiven Austausch wie mit der Volksrepublik. Dutzende Städtepartnerschaften, 500 Kooperationsprojekte von Universitäten, regelmäßige Regierungskonsultationen – zuletzt war die deutsche Kanzlerin mit ihrem halben Kabinett in Peking zu Gast, Erwiderung eines Besuchs, bei dem der chinesische Premier 13 seiner Minister nach Berlin mitgebracht hatte. Der Kern der Beziehung ist die Wirtschaft – Deutschland ist Chinas wichtigster Handelspartner in Europa; die EU der wichtigste Handelspartner Chinas in der Welt. Jenseits dieser alles überstrahlenden und überdeckenden ökonomischen Beziehungen versuchen sich die Länder auch ideologisch zu beeinflussen: China hat in Deutschland schon 14 Konfuzius-Institute eingerichtet, Teil einer neuen Soft-Power-Strategie der Regierung; mit Goethe-Instituten und dem Beginn eines Rechtsdialogs versucht Berlin gegenzuhalten. Neben den offiziellen Kontakten hat der Tourismus in den vergangenen Jahren stark zugenommen, und zwar in beide Richtungen. Chinesische Reisegruppen schwärmen aus nach Berlin, München, Heidelberg (und so überholte die Volksrepublik die Bundesrepublik erstmals auch beim Geldausgeben in der Fremde und wurde zum Reiseweltmeister); deutsche Gäste drängen sich an der Großen Mauer, im Pekinger Himmelspalast und am Bund, der Schanghaier Prachtstraße.
China, Indien, Brasilien: Kein Zweifel, drei neue Giganten spielen jetzt mit auf der Weltbühne, und zwar ganz weit vorne. Aber die Zeiten ihrer Rekordzuwachsraten sind vorbei. Verglichen mit 2007 werden diese sich 2013 halbieren: in Peking von 14 auf etwa 7 Prozent, in Neu-Delhi von 10 auf 5, in Brasília von 6 auf 3. Nach dem phänomenalen Höhenflug eine vorhersehbare Entschleunigung, eine notwendige Korrektur – oder der Beginn eines Absturzes? Sind die BRICS brüchig geworden, Opfer eines womöglich zu schnellen Fortschritts? Wird der Boom zum Bumerang, weil den Regierungen die Kompetenz und die moralische Legitimität fehlen, um den gewachsenen Ansprüchen einer selbstbewusst demonstrierenden neuen Mittelklasse zu genügen?
Und wenn das alles so sein sollte: Steht Europa, so es sich denn zusammenrauft, vor einem Comeback?
TEIL I Traumstädte
1 BOMBAY
Die Kunst zu überleben
Es gibt Städte, die sind steingewordene Langeweile. Nichts entzündet die Phantasie, man wandert zwischen ihren modernen Hochhäuserfluchten, austauschbaren Glaspalästen und Luxuskaufhäusern wie sinnenbetäubt, wie leer, und das, obwohl sie vom Lebensstandard her doch weltweit zur Spitzengruppe gehören: die Denvers und Den Haags dieser Welt.
Andere Städte klingen schon nach Versprechen, wenn man ihre Namen nur leise vor sich hersagt, sie bündeln Sehnsucht und Spannung, sie wecken Erinnerungen an Kindertage und den ersten Globus zu Hause, die Landkarte, an der die Finger erwartungsvoll entlangstrichen. Faszination mit Geschichte und Geschichten: Sagen wir Samarkand an der legendären Seidenstraße oder Timbuktu in der südlichen Sahara, Wegmarken und Schnittpunkte der Kulturen. Weltherrscher wie Alexander der Große und Tamerlan, Weltreisende wie Ibn Battuta und Heinrich Barth haben hier Spuren
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