Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Marktwirtschaft geprägten Deutschlands klafft die Arm-Reich-Schere immer weiter auseinander – aber nirgendwo so wie in dem einstigen Reich der Mitte. Einzige positive Ausnahme unter den relevanten Staaten bei diesem Trend ist Brasilien. Südamerikas Musterland schafft es, die Unterschiede zwischen ganz oben und ganz unten leicht zu verringern, kommt dabei allerdings von einem sehr unerfreulichen Verteilungslevel. Und sieht sich derzeit mit wütenden Bürgern konfrontiert, denen das alles zu spät kommt und zu wenig ist.
Es sind wichtige Erkenntnisse, die sich aus den Studien und Statistiken gewinnen lassen – aber es sind für mich nicht unbedingt die wichtigsten. Persönliche Eindrücke können genauso entscheidend sein. Sie fügen sich, so zufällig sich manchmal die einzelnen Mosaikstücke auch aneinanderreihen, zu einem Gesamtbild. In den vergangenen Jahrzehnten bin ich immer wieder in die Metropolen am Meer gereist, Schanghai, Bombay, Rio, natürlich in die Hauptstädte Peking, Neu-Delhi, Brasília, aber auch in die Armenprovinzen fernab der Glitzermetropolen wie Guizhou, Bihar und Pará. Ich konnte in allen drei Staaten immer wieder mit wichtigen Politikern sprechen. In der Großen Halle des Volkes von Peking interviewte ich den weitsichtigen Außenminister Qian Qichen, ein eher steifes, zeremonielles Treffen; in dem privaten Regierungspavillon von Neu-Delhi den damaligen Hoffnungsträger Rajiv Gandhi, der dann 1991 einem Mordanschlag zum Opfer fiel, ein lebhafter, kontroverser Meinungsaustausch; Anfang 2013 José Genoíno, umstrittener Senator und Ex-Chef der brasilianischen Regierungspartei, im Juli darauf den immer noch höchst einflussreichen Ex-Präsidenten Lula da Silva. Ich habe einige der chinesischen Milliardäre wie Li Ka-shing kennengelernt, die »neuen Maharadschas« in Indien um Lakshmi Mittal und Azim Premji und Brasiliens Super-Unternehmer Eike Batista beobachtet – alle vier haben es zwischenzeitlich unter die zehn reichsten Männer der Welt geschafft. Sie zu porträtieren und ihre Zukunftsvisionen kennenzulernen, war mir für dieses Buch sehr wichtig. Vielleicht aber lässt sich Entscheidenderes zum Aufstieg und Fall von Nationen auch über die Geschichte erklären, über den kulturell-religiösen Kontext, aus dem sich das Selbstverständnis der Menschen und ihr Selbstbewusstsein speist.
Im Gespräch mit führenden Intellektuellen ging es immer wieder um die Frage, ob es einen besonderen Kitt gibt, der die Völker zusammenhält. Unter ihnen war der in Kalkutta gebürtige Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen, ein Weltbürger, der in Harvard lehrt, China wie Europa bestens kennt und deshalb so wunderbar Vergleiche zwischen den neuen und alten Mächten ziehen kann. Ich war zu Gast bei Religionsführern wie dem brasilianischen Befreiungstheologen und Papst-Gegenspieler Leonardo Boff, bei dem führenden Hindu-Priester Veer Bhadra Mishra im heiligen Varanasi am Ganges – und öfter im Exil des Dalai Lama, buddhistischer Friedensadvokat der Tibeter und Hassfigur der chinesischen Machthaber. Von ihnen allen und den starken Eindrücken, die sie hinterlassen haben, will ich erzählen.
Es war bei den Reisen ermutigend zu sehen, wie sich die Lebensverhältnisse verbesserten. Gerade zwischen 1980 und 1985, meiner Korrespondentenzeit in Hongkong, hat sich in China atemberaubend viel verändert. In Indien kamen die positiven wirtschaftlichen Veränderungen fast ein Jahrzehnt später, ebenso in Brasilien. Die Fortschritte spiegelten sich in den Millionärsmessen wider, die hier stattfanden. Sie zeigten sich in den mondänen Boutiquen der Luxuswaren-Hersteller, die ihre Hoffnungen primär auf diese neuen Mächte und Märkte setzen. Auch in den Vorstädten der drei neuen Großmächte entstanden überall Cafés und Restaurants. Aber am Rande der Metropolen, wo sich die Wanderarbeiter für Fronarbeit verpflichten, und vor allem auf dem weiten Land fernab der Zentren des Wirtschaftswunders herrschen bis heute Verzweiflung, Armut und Ungerechtigkeit; oft führen sie zu Sklaven-Abhängigkeit, manchmal zum Selbstmord. Die Schattenkrieger des Aufschwungs am Jangtse, am Ganges, am Amazonas: Auch von diesen Verlierern des Booms, von ihren Träumen und Kämpfen, muss berichtet werden, soll ein korrektes Gesamtbild entstehen. Welcher Staat schafft am ehesten Aufstiegschancen auch für die schwächsten seiner Bürger? Welcher Staat garantiert Zugang zu funktionierenden Institutionen, zu Rechtssicherheit und dem
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